
Ian Fleming
Tschitti-Tschitti-
bäng-bäng
scanned by Ginevra
corrected by AnyBody
Kapitän Karaktakus Pott, ein berühmter Erfinder, kaufte ein Auto. Doch
er wollte nicht irgendein Auto - nein, es mußte ein ganz besonderes sein, ein
Auto mit Abenteurergeist!
Gerade macht er mit seiner Frau Mimi und den Zwillingen Julius und Juliane
die lang ersehnte Probefahrt. Plötzlich glüht am Instrumentenbrett ein Knopf
rot auf. »Ziehen!« steht darauf. Als Karaktakus Pott nicht gleich zieht, wird
der Knopf dunkelrot, und man kann ganz deutlich lesen: »Ziehen,
Dummkopf!« Sofort zieht er den Knopf. Mit leisem Summen verwandelt
sich der ganze Wagen: die Kotflügel schieben sich zu Flügeln auseinander,
aus dem Kühlerschutzgitter taucht ein Propeller auf - und schon hebt sich das
Auto wie ein Flugzeug in die Luft! Mit diesem Erlebnis beginnt für Familie
Pott eine Reihe von aufregenden Abenteuern. Dieses Buch wurde auch
verfilmt.
Originalausgabe: >Chitty-Chitty-Bang-Bang, The Magical Car <
Übertragung aus dem Englischen von Ursula von Wiese
Otto Maier Verlag Ravensburg 1969
Umschlagentwurf von Dietrich Lange
Illustrationen by Otto Maier Verlag Ravensburg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Die Geschichte der Familie Pott widme ich in liebevollem
Gedenken dem Rennwagen Tschitti-tschitti-bäng-bäng, der im
Jahre 1920 von Graf Zborowski auf seinem Landsitz bei
Canterbury konstruiert wurde.
Das Chassis stammte von einem 75-PS-Kettentrieb-Mercedes
aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, und der eingebaute
Sechs-Zylinder-Maybach-Flugzeugmotor gehörte zu dem Typ,
den die Deutschen in ihren Zeppelinen verwendeten.
Vier obengesteuerte Ventile pro Zylinder wurden durch außen
angebrachte Stößel und Schwinghebel betätigt, die eine
Nockenwelle zu beiden Seiten des Kurbelgehäuses in Bewegung
setzte, und zwei Zenith-Vergaser waren an jedem Ende einer
langen Ansaugleitung befestigt.
Er hatte eine grünlackierte Stahlkarosserie mit zweieinhalb
Meter langer Motorhaube und wog mehr als fünftausend Kilo.
Im Jahre 1921 gewann er mit einer Geschwindigkeit von 160
Stundenkilometern das M. P. H. Kurzstreckenrennen in
Brooklands, und 1922, ebenfalls in Brooklands, das >Lightning
Short Handicap <. In jenem Jahr wurde er jedoch in einen Unfall
verwickelt, und der Graf fuhr keine Rennen mehr mit ihm.
I. F.
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Die meisten Automobile bestehen aus Stahl, Draht, Gummi
und Kunststoff, aus Elektrizität, Öl, Benzin, Wasser und aus
dem Schokoladepapier, das man am vorigen Sonntag unter die
Rücksitzlehne gestopft hat. Hinten kommt Gestank heraus und
vorn Hupengequäke, und vorn haben sie helle
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Scheinwerferaugen und hinten rote Lichter. Und damit fertig -
nichts anderes als Blechbüchsen auf Rädern.
Aber manche Autos - meines zum Beispiel und vielleicht auch
eures - sind anders. Wenn man sie wirklich gern hat und sie
versteht, wenn man sie gut behandelt und weder den Lack
zerkratzt noch die Türen zuschlägt, wenn man ihnen rechtzeitig
zu trinken gibt und die Reifen aufpumpt, wenn man sie schön
wäscht und sie möglichst nicht in Regen und Schnee stehen läßt,
dann können sie fast ein lebendiges Wesen werden, ja sogar ein
Zauberwesen!
Glaubst du das nicht? Also gut! Lies nur die Geschichte von
dem Auto, die hier in diesem Buch steht, und dann glaubst du es
vielleicht doch.
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Es war einmal eine Familie Pott. Der Vater, der als Kapitän
bei der englischen Marine gedient hatte, hieß Karaktakus Pott.
(Der Name Karaktakus ist berühmt, denn vor zweitausend
Jahren gab es einen Feldherrn Karaktakus, der große
Heldentaten vollbrachte.)
Die Mutter hieß Mimi, und die Eltern Pott hatten einen Sohn
und eine Tochter, die Julius und Juliane hießen und beide acht
Jahre alt waren - sie waren nämlich Zwillinge. Julius hatte
schwarze Haare, und Juliane war goldblond.
Sie wohnten in England nahe bei einem Wald, an einem
großen See mit einer Insel in der Mitte. Am anderen Ufer führte
eine breite Autostraße bis zum Meer hin. Die Familie Pott hätte
gar nicht herrlicher wohnen können - schöne Wälder, wo man
Käfer und Vogelnester finden konnte, ein See mit
Wassermolchen und Kaulquappen, und in der Nähe die
prächtige Autobahn, so daß sie jederzeit in die weite Welt fahren
konnten.
Aber leider konnten sie nicht wegfahren, weil sie zu wenig
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Geld hatten, um ein Auto zu kaufen. Alles Geld, das sie
besaßen, reichte nur für das Notwendigste, das heißt für Essen,
Heizung, Licht, Kleider und all die Sachen, die man eigentlich
gar nicht beachtet, die aber jede Familie braucht. Es blieb also
fast nichts mehr für Geburtstags-, Weihnachts- und
Ostergeschenke kurz für die wichtigsten Dinge.
Aber die Familie Pott war glücklich, alle genossen ihr Leben,
und da sie sich nicht darüber beklagten, daß sie kein Auto
hatten, braucht man sie auch nicht zu bedauern.
Kapitän Karaktakus Pott war Naturforscher und Erfinder, und
vielleicht hatte er deshalb so wenig Geld. Nur ausnahmsweise
findet man bei der Erforschung einer Gegend Schmetterlinge
oder Steine oder Pflanzen, die so selten sind, daß die Leute für
die Besichtigung etwas zahlen wollen, und so gut wie nie
entdeckt man einen wirklichen Schatz, zum Beispiel Goldbarren
oder Juwelen. Das gibt es nur in Büchern.
Mit Erfindungen ist es ähnlich. Überall auf der Welt, in
Amerika, Rußland, China, Japan, England, Deutschland und in
der Schweiz, überall erfinden die Menschen etwas - von
Mondraketen bis zu einem Mittel, das Gummibälle höher
springen läßt. Alles wird irgendwo erfunden, entweder von
Wissenschaftlern in großen Laboratorien, oder von einem
einsamen Mann, der in seiner kleinen Werkstatt sitzt und
nachdenkt.
Solch ein einsamer Erfinder war auch Kapitän Karaktakus
Pott. Immer träumte er von den unmöglichsten Erfindungen und
von Abenteuern in fernen Erdteilen. Auch an dem Tag, an dem
diese Geschichte anfängt, verschwand er in seiner Werkstatt und
blieb sogar die ganze Nacht dort.
Während dieser Zeit drang Rauch aus dem Schornstein der
Werkstatt, und köstliche Düfte verbreiteten sich. Seine Kinder
horchten an der Tür und vernahmen geheimnisvolle
Bluppblupppfffpfff-Geräusche, als ob etwas kochte und siedete,
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aber sonst gar nichts.
Als Kapitän Pott endlich aus der Werkstatt auftauchte, hatte er
solchen Hunger, daß er zuerst einmal vier Spiegeleier mit Speck
verzehrte und eine große Kaffeekanne leertrank. Dann bat er
seine Frau, Julius und Juliane zu rufen. Die Zwillinge waren
gerade dabei, am See das Loch einer Wasserratte auszubuddeln.
(Sie fingen die Wasserratte nie, denn sie war rascher als die
Kinder und grub sich immer tiefer ein.)
Die Zwillinge liefen ins Haus, stellen sich nebeneinander auf
und betrachteten ihren Vater. Sie waren sehr gespannt.
Manchmal erfand Kapitän Pott langweilige Dinge, wie
zusammenlegbare Kleiderbügel, manchmal überflüssige Dinge,
wie eßbare Grammophonplatten, und manchmal machte er eine
geniale Erfindung, die sich leider nicht verwerten ließ, zum
Beispiel würfelförmige Kartoffeln, die ganz leicht zu verpacken,
zu schälen und zu zerschneiden waren, deren Anpflanzung aber
sehr teuer war, weil jede Kartoffel einzeln in einem
Eisenkästchen gezogen werden mußte.
Diesmal kramte Vater Pott mit geheimnisvoller Miene in
seiner Tasche und holte eine Handvoll in Papier gewickelte
Kugeln hervor, die aussahen wie runde bunte Bonbons, ein
bißchen größer als Murmeln. Für Julius suchte er eine rote
Kugel aus und für Juliane eine grüne. Na ja, dachten die
Zwillinge, Zuckerzeug ist Zuckerzeug, auch wenn es nicht sehr
verlockend aussieht. Also wickelten sie die Bonbons aus dem
Papier und wollten sie gerade in den Mund stecken - da rief
Vater Pott: >Halt! Schaut sie euch erst an!<
Die Kinder betrachteten die Bonbons, und Vater Pott fragte:
>Was seht ihr? Was fällt euch daran auf?<
Julius und Juliane antworteten fast gleichzeitig: >In die Mitte
sind zwei kleine Löcher gebohrt.<
Vater Pott nickte feierlich. >Jetzt dürft ihr sie lutschen.<
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Daraufhin steckten Julius und Juliane die Bonbons in den
Mund und lutschten eifrig. Sie blickten einander mit
hochgezogenen Brauen an, und da sie sich gegenseitig sehr gut
kannten, wußten beide, was der andere dachte: >Merkst du etwas
Besonderes? Wonach schmeckt es? Meins schmeckt nach
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Erdbeeren. Meins schmeckt nach Pfefferminz. Und beide
Augenpaare schienen zu sagen: >Das sind ja bloß runde
Bonbons. Mit der Zunge kann man die Löcher fühlen, aber sonst
sind sie genau wie andere Bonbons.<
Kapitän Pott, der ihnen auch ansah, was sie dachten, hob
plötzlich die Hand. >Jetzt hört beide auf zu lutschen! Dreht die
Bonbons mit der Zunge herum, bis ihr sie mit den Zähnen
festhaltet, und zwar mit den Löchern nach außen, und dann
blast, blast tüchtig!<
Die Zwillinge mußten so sehr lachen, während sie sich
gegenseitig beobachteten, daß sie die Bonbons beinahe
verschluckt hätten; doch schließlich kehrten sie einander den
Rücken, und es gelang ihnen, die Bonbons mit den Zähnen
festzuhalten.
Und dann bliesen sie tüchtig.
Was war denn das? Ein herrlicher schriller Pfiff ertönte, fast
wie von einer Spielzeug-Dampfmaschine. Die Kinder waren so
begeistert, daß sie immerzu weiterpfiffen, bis Vater Pott ihnen
streng befahl, damit aufzuhören. Wieder hob er die Hand in die
Höhe. >Nun lutscht weiter, bis ich euch sage, ihr sollt wieder
pfeifen.< Er schaute auf seine Uhr.
>Jetzt!<
Diesmal lachten die Zwillinge nicht mehr; schnell hatten sie
die Bonbons, die natürlich viel kleiner waren als vorher,
zwischen den Zähnen, und sogleich bliesen sie wie besessen.
Da die Löcher durch das Lutschen noch mehr ausgehöhlt
waren, kam nun ein tiefer Pfiff hervor, ähnlich wie von einer
Diesel-Lokomotive, die in einen Tunnel einfährt, und sie stellten
fest, daß sie allerlei Kunststücke machen konnten; der Ton
änderte sich, wenn sie das eine Loch mit der Zunge zuhielten,
und wenn sie die Lippen dabei halb schlossen, erklang ein
Summen und Brummen. Es war wirklich ein lustiges Spiel.
Zum Schluß aber brach die kleine Trennwand zwischen den
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Löchern nach all dem Lutschen und Pfeifen zusammen.
DieBnobons gaben noch einen letzten tiefen Huplaut von sich
und dann zerkrümelten sie zu winzigen Stückchen.
Julius und Juliane vollführten einen Freudentanz vor
Begeisterung und baten um noch mehr.
Der Vater gab beiden eine kleine Tüte voll Bonbons und
schickte sie in den Garten, wo sie alle Melodien, die sie kannten,
üben und nach Herzenslust pfeifen sollten. Er sagte, nach dem
Mittagessen werde er sie in die Stadt mitnehmen; dort wolle er
zu Herrn Krummbiegel gehen, dem die größte Bonbonfabrik des
Landes gehörte, um ihm seine Erfindung zu zeigen.
Als die Zwillinge in den Garten liefen, rief er ihnen noch
nach: >Sie heißen Potpourri-Bonbons, Potpourri-Pfeifbonbons.
Und wißt ihr was? Davon werden wir uns ein Auto kaufen!<
Aber die Kinder tobten schon im Gebüsch herum, rannten
weiter in den Wald und versuchten die verschiedensten Pfiffe,
wenn sie nicht gerade die köstlich süßen Bonbons lutschten.
Mimi Pott sagte strahlend zu ihrem Mann: >Karaktakus, ich
glaube, diesmal hast du eine geniale Erfindung gemachte
Das schien Herr Krummbiegel, der Fabrikdirektor, auch zu
denken. Nachdem er sich in seinem Arbeitszimmer das
Pfeifkonzert angehört hatte, schickte er die Kinder hinaus, um
mit Vater Pott ungestört sprechen zu können. Die Zwillinge
tanzten in den Fabriksälen unter den Arbeitern herum, lutschten
und pfiffen und verteilten aus ihren Tüten Pfeifbonbons, so daß
bald alle Arbeiter lutschten und pfiffen. Alle lachten so sehr, daß
die Maschinen in der Bonbonfabrik abgestellt werden mußten.
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Herr Krummbiegel rief die Zwillinge schleunigst wieder zu
sich, damit die Arbeit weitergehen konnte, sonst hätte die Fabrik
ja ihre Lieferungen nicht rechtzeitig ausführen können. Als
Julius und Juliane wieder in dem großen Arbeitszimmer des
Fabrikdirektors waren, konnten sie zusehen, wie ihr Vater aus
der Kasse viele Geldscheine erhielt und dazu noch einen
Vertrag. Darin stand, daß er jedesmal einen Shilling erhalten
sollte, wenn tausend Potpourri-Pfeifbonbons von der Fabrik
Krummbiegel verkauft worden waren. Die Zwillinge fanden das
nicht sehr viel; doch später erfuhren sie, daß die Fabrik
Krummbiegel jedes Jahr allein fünf Millionen Seidenkissen-
Bonbons verkaufte. Also hatte ihr Vater vielleicht doch kein so
schlechtes Geschäft abgeschlossen!
Nachdem der Vertrag unterschrieben war, drückten alle
einander die Hand, und Herr Krummbiegel schenkte beiden
Kindern eine große Schachtel, die je ein Muster aller Arten von
Bonbons der Firma Krummbiegel enthielt. Hierauf eilten die
drei nach Hause zurück, um Mutter Pott die gute Nachricht
mitzuteilen. Gleich darauf fuhren sie im Taxi zur Bank, wo das
viele Geld aufbewahrt werden sollte, und dann... ja, dann
machten sie sich auf, um ein Auto zu kaufen!
Alle vier waren einstimmig der Meinung, es dürfe nicht
einfach irgendein Auto sein - jedenfalls nicht so eine schwarze
Limousine, die von vorn genau gleich aussieht wie von hinten,
so daß man nicht weiß, ob sie kommt oder geht. Nein, es mußte
ein ganz besonderer Wagen sein, ein Auto mit Abenteurergeist.
Etwas Besonderes ist immer schwer zu finden. Sie suchten
den ganzen Nachmittag und den ganzen folgenden Tag
vergeblich. Sie sahen sich funkelnagelneue Wagen an, und sie
gingen zu den Autohändlern, die ihnen gebrauchte Wagen
anpriesen. Aber Vater Pott kannte sich sehr gut aus, da er ja bei
der Marine mit Motoren zu tun gehabt hatte und außerdem ein
Erfinder war. Ihm genügte ein Blick unter die Haube, und er
brauchte nur das Geräusch des Motors zu hören, und schon
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wußte er, woran er war- selbst wenn es ihm nicht auffiel, daß
der Kilometerzähler fehlte oder daß das Fahrgestell infolge eines
Zusammenstoßes krumm und schief war.
Dann kamen sie am Ende des zweiten Tages zu einer
baufälligen kleinen Garage, die einem einstmals berühmten
Rennfahrer gehörte. Eigentlich war es nur ein Blechschuppen,
vor dem zwei schmutzige Benzinpumpen standen; drinnen war
der Betonboden schlüpfrig von Öl, überall lagen Teile alter
Autos herum, und das Ganze sah aus, als ob der Garagenbesitzer
nur zum Vergnügen bastelte.
Vater Pott merkte sogleich, daß er es hier mit einem
Gleichgesinnten zu tun hatte. Er unterhielt sich endlos mit ihm,
während Mimi und die Zwillinge immer ungeduldiger wurden.
Plötzlich sahen sie, daß die beiden Männer hinter den
Schuppen gingen, wo sich etwas Langes, Niedriges unter einer
Zeltplane versteckte. Der Garagenbesitzer betrachtete die
Familie Pott prüfend, zuerst den Vater, dann die Mutter und
zuletzt die Kinder, und schließlich ging er zum einen Ende der
Plane und schlug sie bedachtsam zurück.
Mutter Pott und die Zwillinge waren tief enttäuscht. Sie hatten
gedacht, daß unter der Zeltplane ein kostbares Auto verborgen
sein müßte. Was aber erblickten sie statt dessen? Nur die
rostigen, klapprigen, verbogenen Überreste eines sehr langen,
niedrigen, offenen Viersitzers ohne Motorhaube, an dem die
grüne Farbe in Streifen abblätterte.
>Da ist es<, sagte der Garagenbesitzer mit betrübter Miene.
>Das Auto, das jede Rennstrecke in Europa gekannt hat. Vor
Jahren gab es keinen einzigen berühmten Rennfahrer, der nicht
irgendwann einmal mit diesem Wagen gefahren wäre. Er hat
immer noch die grüne Rennfarbe, wie Sie sehen. Es ist ein
Paragon-Panther mit Zwölfzylinder-Kompressormotor. Die
Fabrik hat nur ein einziges Exemplar dieses Typs hergestellt,
und dann machte sie Bankrott. Es ist der einzige Paragon-
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Panther in der Welt. Sieht ziemlich schäbig aus, nicht wahr?
Leider ist er reif für den Schrotthaufen. Ich kann es mir nicht
leisten, ihm weiterhin von meinem knappen Platz abzugeben.
Nächste Woche soll er abgeholt werden, dann schleppt man ihn
ab zum Autofriedhof, packt ihn mit den Zähnen eines Krans und
wirft ihn einer großen Presse in den Rachen. Ein Druck, und er
ist zu einem viereckigen Metallbarren zerquetscht. Danach wird
er zu Rohmaterial eingeschmolzen. Ein Jammer, nicht? Man
sieht es ihm fast an den Augen an - an den großen Sportwagen-
Scheinwerfern -, daß er weiß, was ihm bevorsteht. Aber so ist es
nun einmal. Sie sehen ja, in was für einem Zustand er ist; es
würde viel Geld kosten, ihn wieder auf die Straße zu bringen.<
Vater Pott sah merkwürdig aufgeregt aus. >Darf ich ihn mir
einmal näher anschauen?<
>Bitte sehr.< Der Garagenbesitzer nickte traurig. >Er wird es zu
schätzen wissen, wenn er zum letztenmal von einem Mann
betrachtet wird, der weiß, was man früher unter wirklicher
Qualität verstanden hat.<
Die ganze Familie ging vorsichtig um die Ölpfützen herum zu
dem Auto. Während Vater Pott den Motor beguckte, betasteten
Mimi und die Zwillinge die einstmals wunderschönen
Lederpolster, hoben die Teppiche hoch, untersuchten die
Knöpfe, Hebel und Scheiben am Instrumentenbrett - Dutzende,
die allesamt rostig und verschimmelt waren - und drückten auf
die alte Hupe, die wie ein dicker Gummiball aussah. Aber die
Hupe gab keinen Ton mehr von sich, am andern Ende flog nur
Staub heraus, gerade dem Vater ins Gesicht, der sich am Motor
zu schaffen machte.
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Die Kinder blickten die Mutter an, und Mimi blickte ihre
Kinder an, doch nicht etwa mit betrübtem Kopf schütteln; nein,
all hatten den gleichen Ausdruck in den Augen, als wollten sie
sagen: >Das muß einmal das schönste Auto der Welt gewesen
sein. Wenn der Motor noch einigermaßen in Ordnung ist, und
wenn man daranginge, zu flicken, zu lackieren und zu polieren,
dann könnte es vielleicht wieder wie früher werden. Dann hätten
wir keinen gewöhnlichen Wagen, wie sie zu Hunderten und
Tausenden auf den Straßen herumfahren. Wir hätten ein ganz
besonderes Auto!<
Karaktakus Pott richtete sich auf und schaute die andern an.
Dann wandte er sich an den Garagenbesitzer und sagte: >Ich
kaufe den Wagen. Er gefällt uns, und wir werden ihn herrichten,
daß er wie neu wird.<
Es stellte sich heraus, daß der Wagen sehr billig war, weil ihn
bisher niemand gewollt hatte. Vater Pott bezahlte den verlangten
Preis sofort in bar und sagte: >Vielen Dank. Seien Sie doch so
freundlich und bringen Sie ihn mir so bald wie möglich zu
meiner Werkstatt.<
Der Garagenbesitzer hatte vor Rührung Tränen in den Augen,
als er allen die Hand drückte. Nachdem sie in ihr Taxi gestiegen
waren, um nach Hause zu fahren, sagte er: >Herr Pott, Sie und
Ihre Frau und Ihre Kinder werden den Kauf nie bereuen. Der
Wagen wird Ihnen die größte Freude machen. Sie haben ihn vor
dem Schrotthaufen bewahrt, und ich würde meinen Hut essen -
falls ich einen Hut hätte -, wenn er es Ihnen nicht hundertfach
vergilt, was Sie ihm heute Gutes getan haben.<
Er winkte ihnen fröhlich nach, bis sie außer Sicht waren.
Auf der Heimfahrt flüsterte Juliane ihrem Bruder zu, der vorn
neben dem Fahrer saß: >Julius, hast du die alte Autonummer
gesehen, hinten an unserem Wagen?<
>Das ist doch nichts Besonderes<, erwiderte Julius
verachtungsvoll. >Es war ABRA 123.<
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>Richtig, ABRA 123, bestätigte Juliane aufgeregt. >Weißt du
nicht, was das heißen könnte, wenn man es richtig ausspricht?
Abrakadabra eins, zwei, drei! Ein Zauberspruch!<
>Hm <, machte Julius nachdenklich. >Hm, hm, hm.<
Sie sannen über diesen sonderbaren Zufall nach, bis sie zu
Hause angelangt waren.
Am nächsten Tag mußten Julius und Juliane in ihr Internat
abreisen, und so erlebten sie die Ankunft des neuen Autos nicht.
Ein >neues Auto< war es zwar nicht, sondern nur der Rest eines
alten, was da von einem kleinen Lastwagen holpernd und
rasselnd angeschleppt wurde. Aber Mutter Pott schrieb ihren
Zwillingen und schilderte ihnen, wie das Auto sogleich in der
Werkstatt verschwunden sei. Der Vater hatte sich nun dort
eingeschlossen und tauchte nur zum Essen und zum Schlafen
auf.
Drei Monate lang, während der ganzen Sommerschulzeit,
arbeitete er geheimnisvoll an dem alten Paragon-Wrack, und
Mimi schrieb den Zwillingen, es käme viel Rauch aus dem
Schornstein, und oft blieben die Fenster die halbe Nacht hell.
Rätselhafte Pakete von Maschinenfabriken würden gebracht und
verschwänden hinter der verschlossenen Tür der Werkstatt.
Mimi schrieb auch, der Vater sei abwechselnd ungeduldig,
aufgeregt, betrübt, frohlockend und unglücklich; er träume
schlecht und habe den Appetit verloren; doch allmählich, im
Verlauf der Wochen, sei er ruhiger geworden. Im letzten Brief
vor den Sommerferien stand, sein Gesicht strahle immer mehr,
und er reibe sich vergnügt die Hände. All das nahmen die
Zwillinge in großer Aufregung zur Kenntnis, denn sie konnten
sich denken, was es zu bedeuten hatte. Endlich kam der große
Tag, an dem sie das Internat verließen, weil die Ferien begonnen
hatten. Die ganze Familie versammelte sich vor der Werkstatt,
während Vater Pott feierlich die Tür aufschloß. Und da stand
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unter den hellen Lampen der Paragon-Panther mit dem
Zwölfzylinder-Kompressormotor.
Die Mutter und die Zwillinge starrten sprachlos darauf, bis
Julius rief: >Das ist ja der schönste Wagen auf der Welt!<
Mutter Pott und Juliane strahlten vor Freude.
Er war wirklich wunderschön. Alles glitzerte und schimmerte
von neuer Farbe und blankem Chrom, bis zum Schallbecher der
großen Hupe.
Langsam gingen sie ringsherum und untersuchten jedes
Teilchen, die glänzenden Knopfreihen am Instrumentenbrett, die
funkelnagelneue rote Polsterung, das elfenbeinfarbene
Faltverdeck, die schönen neuen Reifen, die großen
Auspuffrohre, die hellgrüne Haube und das blanke Schild mit
der Autonummer ABRA 123.
Stumm kletterten sie durch die niedrigen Türen, die sich mit
dem leisesten Knacken öffneten und schlossen. Kapitän Pott
setzte sich hinter das große Steuer, Mimi ließ sich neben ihm in
dem Sitz nieder, der eine eigene Armlehne hatte; Julius und
Juliane sanken auf die weichen roten Lederpolster im Rücksitz,
wo sie ebenfalls eine Armlehne zwischen sich hatten.
Wortlos beugte sich Vater Pott vor und drückte auf den
dicken schwarzen Knopf des Anlassers.
Zuerst geschah nichts. Der Anlasser schnurrte nur leise.
Julius und Juliane schauten einander fragend an. Ob das Auto
am Ende doch nicht fuhr?
Aber nun zog Kapitän Pott den Silberknopf der Starterklappe
heraus, um dem Vergaser etwas mehr Benzin zuzuführen, und
drückte abermals auf den Anlasser. Da gaben die Auspuffrohre
vier Laute von sich. Nach jedem Laut entstand eine deutliche
Pause, und die Geräusche waren wie zwei mächtige Nieser und
zwei kleine Explosionen. Danach war alles still.
Wieder blickten Julius und Juliane sich gegenseitig an, jetzt
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wirklich beunruhigt. War etwas nicht in Ordnung?
Vater Pott sagte jedoch nur: >Der Motor ist ein bißchen kalt.
Jetzt aber!<
Nochmals drückte er auf den Anlasser. Und diesmal setzten
sich die zwei Tschitti-Nieser und die zwei leisen Bäng-
Explosionen fort und vermischten sich miteinander zu einem so
entzückenden Schnurren, wie es weder die Mutter noch die
Zwillinge jemals von einem Motor vernommen hatten. Kapitän
Pott schaltete den ersten Gang ein, und langsam rollten sie aus
der Werkstatt in den Sonnenschein hinaus und dann weiter über
den Weg zur Autobahn. Die Federung war wunderbar weich,
und immerzu drang aus den fischschwanzähnlichen
Auspuffrohren das wohlklingende Schnurren.
Als sie an die Einfahrt der Autobahn kamen, drückte Vater
Pott auf die dicke Gummihupe, die sogleich ein tiefes, höfliches,
aber zugleich drohendes Gebrüll ausstieß, und weil er den
Zwillingen alles vorführen wollte, drückte er auch auf den
Knopf in der Mitte des Steuers, worauf die elektrische Hupe
eine durchdringende Warnung hören ließ: >Giegeeeeh!steuerte er den Wagen auf die Autobahn, und die erste
Probefahrt begann nun erst richtig.
Wahrhaftig, der lange, glänzende grüne Wagen flog beinahe.
Kaum hörbar schaltete Kapitän Pott vom ersten in den zweiten
Gang, dann in den dritten, und im vierten Gang schoß der große
Wagen mit einer Geschwindigkeit von hundertachtzig
Stundenkilometern dahin. Sie überholten alle die gewöhnlichen
Autos und hatten den Eindruck, als stünden die andern still.
>Giegeeeh!< warnte die elektrische Hupe wieder und wieder.
Die Fahrer der kleinen Limousinen blickten in den Rückspiegel,
sahen das glänzende Ungetüm, steuerten schnell auf die Seite,
um es vorbeizulassen, und riefen erstaunt: >Donnerwetter! Was
ist denn das für ein Wagen? Unglaublich!<
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Im Nu war das grüne Auto an ihnen vorbei; sie spürten den
starken Luftzug und merkten sich die Nummer ABRA 123, aber
keinem der Fahrer fiel es auf, wie man diese Nummer
aussprechen mußte, sondern sie dachten nur, es sei eine
Nummer, die man sich leicht merken könne.
So gelangte der große grüne Wagen zum Ende der Autobahn,
wo Vater Pott sorgsam auf die andere Seite lenkte. Hierauf ging
es zurück nach Hause. Julius und Juliane hielten sich aufgeregt
an der Armlehne fest, blickten auf das glänzende
Instrumentenbrett und sahen zu, wie die Nadel des
Geschwindigkeitsmessers wieder auf hundertachtzig stieg und
dort blieb, bis sie sich der Ausfahrt näherten. Kapitän Pott
schaltete herunter, betätigte die kräftige Bremse, so daß der
Wagen nur noch schlich, und bog auf den schmalen Holperweg
ein, der zu ihrem Haus führte. Schließlich hielten sie unter den
hellen Lichtern der Werkstatt. Als der Motor abgestellt wurde,
gab er ein letztes >Tschittitschitti< von sich, stieß einen tiefen
Seufzer der Zufriedenheit aus und verstummte.
Vater Pott sah seine Familie mit leuchtenden Augen an. >Na,
wie findet ihr unser Auto?<
>Großartig!< antwortete die Mutter.
>Toll!< rief Julius.
>Fabelhaft!< sagte Juliane. Hierauf sprach Kapitän Karaktakus
die geheimnisvollen Worte: >Ja, aber ich muß euch warnen.
Dieser Wagen ist etwas wunderlich. Ich habe alles
hineingesteckt, was ich weiß und kann, jede Erfindung und
Verbesserung, die mir nur einfiel, und eine ganze Menge von
dem Geld, das uns die Firma Krummbiegel gegeben hat. Aber es
steckt noch mehr in ihm. Er denkt irgendwie selbständig.<
>Wie meinst du das?< fragten sie im Chor.
>Na ja<, begann er vorsichtig, >genau kann ich es nicht sagen.
Manchmal, wenn ich morgens weiterarbeiten wollte, stellte ich
fest, daß sich über Nacht gewisse technische Änderungen
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ergeben hatten. Ganz entschieden - wie soll ich mich
ausdrücken? - umwälzende Neuerungen. Mehr kann ich nicht
darüber sagen, ich bin der Sache noch nicht auf den Grund
gekommen; aber mir scheint, daß sich dieser Wagen ganz von
selbst mancherlei Verbesserungen ausgedacht hat, als ob er eine
Seele oder seinen eigenen Verstand hätte, ja, als ob er uns
dankbar wäre, daß wir ihm sozusagen das Leben gerettet haben.
Und noch etwas: Seht ihr die Reihen von Knöpfen, Hebeln und
kleinen Lichtern am Instrumentenbrett? Also, offen gestanden,
ich konnte noch nicht herausfinden, wozu sie alle dienen. Die
üblichen kenne ich natürlich - für die Scheinwerfer, für die
Scheibenwischer und dergleichen -, aber offenbar sind noch
einige Dinge dabei, die man bisher noch nicht kennt. Mit der
Zeit werden wir wohl dahinterkommen, vorläufig aber muß ich
zugeben, daß ich vieles nicht verstehe. Es ist, als ob der Wagen
mir sein Geheimnis noch nicht enthüllen wollte.<
>So etwas!< staunte Juliane. >Ein Auto mit Verstand!<
Julius sagte aufgeregt: >Wenn das wahr ist, muß es einen
Namen haben. Ich weiß schon, wie wir es nennen wollen. Es hat
sich den Namen selbst gegebene
>Was meinst du?<
>Welchen Namen hat es sich selbst gegeben?<
>Wann und wieso?< Das riefen sie alle durcheinander.
Julius antwortete bedächtig: >Es sagte beim Starten ,tschitti-
tschitti', als ob es nieste, und dann ,bäng-bäng'! So wollen wir es
nennen - diesen Namen hat es selbst gefunden.<
Die andern sahen sich gegenseitig an. Auf einmal lächelten
sie zustimmend, und das war das Zeichen für Kapitän
Karaktakus Pott. Er streichelte die Nase des grünsilbernen
Wagens und sprach laut und feierlich: >Nun hör mir gut zu, mein
lieber Zwölfzylinder-Paragon-Panther. Hiermit taufen wir
dich...< Da riefen alle im Chor: >Tschitti-tschitti-bäng-bäng!<
Danach verließen sie die Werkstatt und widmeten sich ihren
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verschiedenen Pflichten, die über dem auf regenden Nachmittag
vernachlässigt worden waren.
Der folgende Tag war ein Sonnabend im August, und die
Sonne schien schon am frühen Morgen sehr heiß. Beim
Frühstück verkündete Vater Pott: >Heute wird es eine sengende
Hitze geben. Da ist es am besten, wenn wir ein schönes Picknick
einpacken, in Tschitti-tschitti-bäng-bäng steigen und ans Meer
fahren.<
Natürlich waren alle begeistert, und sogleich wurde mit den
Vorbereitungen begonnen. Vater Pott und die Zwillinge
kümmerten sich um Tschitti-tschitti-bäng-bäng, füllten den
Benzintank auf, sahen nach, ob der Ölstand stimmte und
genügend Wasser im Kühler war, prüften auch den Druck der
Reifen, putzten die Windschutzscheibe, an der noch vom
Vortage kleine Insekten klebten, und rieben die Chromteile, bis
sie wie Silber glänzten. Derweil füllte Mimi einen Korb mit
hartgekochten Eiern, Würsten, Butterbroten, Rosinenbrötchen
(natürlich mit vielen Rosinen) und Flaschen, die Zitronen- und
Orangensaft enthielten.
Dann stiegen alle in den Wagen, und nachdem Tschitti-
tschitti-bäng-bäng wie üblich zwei Nies- und zwei kleine
Explosionsgeräusche von sich gegeben hatte, fuhren sie über die
Zufahrtsstraße auf die Autobahn, die geradewegs nach Dover
führt, einer dreißig Kilometer entfernten englischen Hafenstadt,
von der man täglich mit einem Dampfer übers Meer nach
Frankreich und nach Holland fahren kann.
Aber ach!
Zweiundzwanzigtausendsechshundertsiebenundfünfzig
Familien hatten ebenfalls beschlossen, an diesem schönen
Sonnabend mit dem Auto über die Straße nach Dover ans Meer
zu fahren. Jedenfalls stand diese Zahl am nächsten Tag in der
Zeitung. Ein endloser Strom vollbesetzter Wagen strebte
demselben Ziel zu wie die Familie Pott.
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Kapitän Pott steuerte sein großes Auto so kunstgerecht und
geschickt wie möglich; er überholte nur, wenn die Sicherheit es
zuließ, schlängelte sich durch den Verkehr und schlug
Seitenstraßen und Abkürzungen ein, um die langen Kolonnen zu
vermeiden. Trotzdem kamen sie nur sehr langsam vorwärts.
Ausgeschlossen, mit einer Geschwindigkeit von hundertachtzig
Stundenkilometern zu fahren; meistens zeigte die Nadel nur
armselige dreißig Stundenkilometer an. Alle - der Vater, die
Mutter, Julius und Juliane - wurden immer ungeduldiger, und
Tschitti-tschitti-bäng-bäng dampfte ärgerlich aus seiner
Kühlerhaube, auf der ein kleines silbernes Flugzeug saß, dessen
Propeller im Wind rascher oder langsamer kreiselte, je nach der
Geschwindigkeit der Fahrt.
Auch seine großen Scheinwerferaugen, die seit dem gestrigen
Tage immerzu glückselig und begeistert gestrahlt hatten,
sprühten vor Zorn und Ungeduld. Die Familie Pott konnte das
zwar nicht sehen, aber die Leute vor ihnen, die Tschitti-tschitti-
bäng-bäng bewundernd durchs Hinterfenster ihrer Wagen
betrachtet hatten, wurden unruhig beim Anblick des glänzenden
grünen Ungetüms, das jetzt aussah, als ob es sie auffressen
wollte.
Auf einmal gerieten sie in eine Verkehrsstockung. Die
Kolonne mußte an die zwei Kilometer lang sein, und da standen
sie nun am Ende der langen Autoschlange und konnten nicht
weiter. Es sah wirklich so aus, als ob sie nicht mehr beizeiten
am Meer ankommen würden, um am Strand zu picknicken, vom
Schwimmen ganz zu schweigen.
Zufällig warf Kapitän Pott einen Blick auf die rechte Seite des
Instrumentenbretts, und er rief aufgeregt: >Schaut euch das
einmal an!< Dabei deutete er auf einen Knopf vor Mimis Augen.
Mimi und die Zwillinge folgten seinem Zeigefinger, und da
sahen sie, daß ein kleiner Knopf am Instrumentenbrett hellrot
glühte. Mit dem Licht wurde ein Wort sichtbar, und das Wort
war ein Befehl: >Ziehen!<
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>Du meine Güte <, sagte Vater Pott. >Ich habe mir schon den
Kopf zerbrochen, wofür dieser Knopf sein könnte. Rätselhaft!<
>Sieh doch!< rief Mimi. >Das Licht wird dunkelrot!<
Wahrhaftig, und jetzt wurde noch ein Wort sichtbar. Zuerst
trauten sie ihren Augen nicht, aber da stand ganz deutlich:
>Dummkopf!< Der zornrote Knopf sagte also: >Ziehen,
Dummkopf!<
Vater Pott lachte schallend und sagte: >So eine Frechheit! Da
übernimmt Tschitti-tschitti-bäng-bäng das Kommando und
nennt mich noch dazu einen Dummkopf! Also gut!< Er beugte
sich zur Seite und zog den Knopf heraus.
Julius und Juliane warteten aufgeregt, was sich nun ereignen
würde.
Ein leises Summen begann. Es schien überallher aus dem
Wagen zu kommen - von der Vorderachse, von der Hinterachse,
unter der Haube hervor. Und auf einmal fand eine höchst
seltsame Verwandlung statt. Die großen vorderen Kotflügel
schoben sich hinaus, so daß sie wie richtige Flügel aussahen,
und die kleineren hinteren Kotflügel machten es ihnen nach. Ein
Glück, daß die Straße breit war, sonst wäre ein Nachbarwagen
oder eine Telegrafenstange von den scharfen grünen Flügeln in
Stücke geschnitten worden! Mit einem leisen Knacken klinkten
die Flügel ein, und gleichzeitig glitt das Kühlerschutzgitter wie
eine Schiebetür auseinander, worauf ein Propeller, der mit der
Kurbelwelle verbunden war, sichtbar wurde und nach vorn
rutschte, bis er unter der Motorhaube hervorragte.
In diesem Augenblick blitzte ein grünes Licht am
Instrumentenbrett auf, und wieder sah man einen Befehl:
>Ziehen!< Diesmal gehorchte Kapitän Pott sofort und zog
vorsichtig den betreffenden Knopf heraus.
Was war denn das?
Langsam senkten sich die Flügel, und Kapitän Pott, der
endlich erfaßte, was Tschitti-tschitti-bäng-bäng vorhatte, gab
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Gas. Da hob der große Wagen, der nun ein Flugauto geworden
war, die glänzende grünsilberne Nase und stieg in die Höhe,. Ja,
wahrhaftig, er hob sich vom Boden wie ein Flugzeug, flog über
das vor ihm stehende Auto weg, haarscharf am Verdeck vorbei,
und sauste über die ganze lange Autoschlange. Alle Leute
blickten sprachlos aus dem Fenster und starrten ihm nach.
Vater Pott rief: >Haltet euch fest! Um Himmels willen, haltet
euch fest!<
Die Mutter und die Zwillinge umklammerten die Armlehnen
und saßen vor Staunen regungslos, mit offenem Mund und
aufgerissenen Augen. Sie konnten nur denken: Wie wird das
weitergehen? Was wird als nächstes geschehen?
Unter dem Wagen ertönte ein neues Geräusch, dann ein
dumpfes Bumsen, und automatisch wurden die vier Räder ins
Fahrgestell eingezogen. Auf diese Weise konnte das Flugauto
schneller fliegen, weil sich der Luftwiderstand jetzt verringerte.
Vater Pott hielt das Steuer fest in den Händen und
schmunzelte vor Aufregung und Freude. >Was habe ich euch
gesagt?< rief er laut, um den brausenden Wind zu übertönen.
>Tschitti-tschitti-bäng-bäng hat seinen eigenen Willen. Er ist ein
Zauberwagen. Keine Sorge, er meint es gut mit uns!<
Vorsichtig drehte er das Steuer, um zu sehen, was geschehen
würde. Tatsächlich ließ sich das Auto im Flug genauso lenken
wie auf dem Boden, und nachdem er ein wenig herumgekurvt
hatte, um ein Gefühl für die Steuerung zu bekommen, nahm er
geraden Kurs auf den hohen Turm der Kathedrale von
Canterbury, einer malerischen Stadt im südöstlichen England,
und dröhnte über die lange Autoschlange hinweg, während die
armen Insassen dort unten in der Hitze schmorten und die
ungesunden Auspuffgase der vor ihnen stehenden Wagen
einatmen mußten.
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Allmählich gewannen Mimi und die Zwillinge Vertrauen und
machten es sich auf ihren Sitzen bequemer. Julianes goldblondes
Haar flatterte im Wind wie eine Fahne, und Julius' dunkler
Schöpf wurde ganz zerwühlt.
Immer schneller flogen sie über die lange Reihe der
wartenden Autos - in sechzig Meter Höhe mit einer
Geschwindigkeit von hundertachtzig Stundenkilometern. Weiter
ging es über den Stour, der durch Canterbury zum Meer fließt,
über Häuser und über Felder, wo Pferde, Kühe und Schafe
erschrocken auseinanderstoben, weil sie noch nie einen solchen
dröhnenden grünen Drachen gesehen hatten. Unten auf dem
Boden sah man Tschitti-tschitti-bäng-bängs langen Schatten den
Tieren nachjagen.
Als sie über Canterbury waren, machte sich Kapitän Pott den
Spaß, den hohen Turm der Kathedrale zu umkreisen, so daß die
Dohlen und Tauben aus den Nischen aufgescheucht wurden und
aufgeregt krächzten und gurrten. Dann ging es weiter über
Felder und Wälder; sie kurvten von der Straße weg und kürzten
den Weg zum ferneren majestätischen Schloß von Dover ab, auf
dessen höchstem Turm die britische Flagge wehte.
Wieder beschrieb Vater Pott einen Kreis in der Luft, damit
seine Frau und seine Kinder - natürlich auch Tschitti-tschitti-
bäng-bäng - das Schloß gut betrachten konnten. Alle die
Soldaten, die soeben auf dem Schloßhof exerzierten, schauten
zum Ärger des Feldwebels in die Höhe und die Wachposten
ebenfalls. Eigentlich konnte Tschitti-tschitti-bäng-bäng von
Glück sagen, daß keiner der Soldaten auf ihn schoß. Er hatte ja
kein richtiges Flugzeug-Kennzeichen, sondern trug nur seine
Autonummer ABRA 123. So wäre es durchaus möglich
gewesen, daß die Soldaten ihn für ein neuartiges,
fremdländisches Flugzeug hielten, das die Festung von Dover
angreifen wollte.
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Doch alles ging gut; unbehelligt flogen sie weiter zur Küste.
Hier hielten sie Ausschau nach einer geeigneten Landestelle, wo
sie am funkelndblauen Meer picknicken wollten. Aber überall
am Strand wimmelte es von Familien, die denselben Plan gehabt
hatten, und Tschitti-tschitti-bäng-bängs Insassen wurden immer
trauriger, als sie sahen, daß nirgends ein Plätzchen frei war. Im
Wasser tummelten sich die Badenden, auf dem schönen Sand
lagen sie in der Sonne, und die Wassertümpel zwischen den
Felsen, wo man Krabben fangen und wertvolle Muscheln
sammeln konnte, waren bevölkert von Ausflüglern, die sich die
Beute gegenseitig streitig machten.
Ach, und wie sehr sehnten sich Julius und Juliane danach, im
Meer zu schwimmen und den köstlichen Inhalt des
Picknickkorbes auszupacken!
Da geschah etwas Merkwürdiges. Das Steuer drehte sich
wirklich von selbst in Kapitän Potts Händen, als ob Tschitti-
tschitti-bäng-bäng ihre Enttäuschung gespürt hätte und das
Kommando übernehmen wollte. Und schon flogen sie über das
Wasser hinaus.
Mimi und die Zwillinge hielten den Atem an, und Vater Pott,
der sehr beunruhigt aussah, versuchte das Steuer umzulegen, um
zum festen Land zurückzukehren. Doch da begann das Licht am
Instrumentenbrett zu blinken. Diesmal befahl es dem Lenker
nicht, zu ziehen, sondern es sagte deutlich: >Drücken!<
Vorsichtig drückte Kapitän Pott auf den Knopf, und langsam
verlor Tschitti-tschitti-bäng-bäng an Höhe und ging hinunter.
>Um Gottes willen!< schrie Mimi auf. >Wir fallen ja ins Meer!
Wie entsetzlich! Macht euch alle zum Schwimmen bereit! Die
Polster werden uns tragen. Jeder muß sich an einem Sitzpolster
festhalten! Dort drüben liegt das Seebad Deal. Man wird uns
sehen und ein Rettungsboot herüberschicken, und wenn wir uns
über Wasser halten, wird man uns sicher retten!<
>Mach dir keine Sorgen, liebe Mimi <, rief Vater Pott gegen
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den heulenden Wind. >Es wird alles gut gehen. Ich glaube, ich
weiß, was Tschitti-tschitti-bäng-bäng vorhat. Sieh doch, wohin
er will. Das sind die Goodwin Sands, die zwei großen
Sandbänke, die bei Ebbe hervortreten. Und dort ist das berühmte
Leuchtschiff ,South Goodwin'. Sein Nebelhorn gehört zu den
größten der Welt, damit warnt es die Dampfer. Seht ihr die
Mäste der untergegangenen Schiffe überall aus dem Sand ragen?
Wahrscheinlich sind in dem Treibsand - seit den Zeiten der
Römer - mehr Schiffe eingesunken, als auf der ganzen Welt an
gefährlichen Klippen zerschellt sind. Im Lauf der Jahrhunderte
ist hier ein richtiger Schiffsfriedhof entstanden.<
>Ob man dort wohl Schätze finden kann?< fragte Julius
aufgeregt.
>Leider besteht keine Hoffnung <, erwiderte Karaktakus Pott
betrübt. >Immer wenn ein Schiff auf den Goodwin-Sandbänken
einsinkt, was natürlich meistens in dunklen oder nebligen
Nächten geschieht, schwärmen die Strandräuber von der Küste
herbei.<
Währenddessen war Tschitti-tschitti-bäng-bäng sachte zu der
riesigen goldenen Sandfläche hinuntergeglitten, die ringsum von
den weichen blauen Kräuselwellen des Ärmelkanals bespült
wurde. Da Ebbe herrschte, sah man am Rande der Sandbank
auch die halbverdeckten Rümpfe der eingesunkenen Schiffe.
Die Mannschaft des hellen, rotgestrichenen Leuchtschiffes
kam aufs Deck und winkte der Familie Pott freudig zu, als sie
niedrig über das Schiff hinwegflog. Das Lichtlein am
Instrumentenbrett blinkte von neuem, und Kapitän Pott nahm
langsam den Fuß vom Gaspedal, worauf die vier Räder
automatisch wieder erschienen und kurz danach sanft auf der
harten, ebenen Oberfläche aufsetzten. Das Flugauto rollte noch
ein Stückchen auf dem Sand aus, und erst als Kapitän Pott die
Bremsen betätigte, kam Tschitti-tschitti-bäng-bäng am Ufer zum
Stillstand. Sogleich leuchtete das rote Licht am
Instrumentenbrett auf und befahl: >Drücken!< (diesmal ohne
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>Dummkopf<).
Vater Pott drückte auf den Knopf, und das gleiche leise
Summen ertönte, als sich die vorderen und hinteren Tragflächen
allmählich in Kotflügel zurückverwandelten; der Propeller
verschwand im Innern der Haube, und das Kühlerschutzgitter
schloß sich darüber. Tschitti-tschitti-bäng-bäng nieste und
bängte noch zweimal leise, und dann stand auf der großen
Sandbank mitten im Meer ein ganz normal aussehendes
glänzendgrünes Auto.
Alle stießen einen tiefen Seufzer der Zufriedenheit aus und
kletterten aus dem Zauberwagen auf den warmen Sand.
Doch bevor sie sich die Badesachen anzogen, gingen alle vier
nach vorn, streichelten Tschitti-tschitti-bäng-bängs warme
Motorhaube und sagten, als ob sie ein lebendiges Geschöpf vor
sich hätten: >Vielen Dank, lieber Tschitti-tschitti-bäng-bäng, du
bist wirklich ein Wunderwesen!<
Es hörte sich an, als ob auch Tschitti-tschitti-bäng-bäng
zufrieden seufzte - aber vielleicht war es nur der Dampf, der
dem heißen Kühler entwich -, und er schien die großen
strahlenden Scheinwerfer bescheiden niederzuschlagen, genau
wie Juliane die Augen niederschlug, wenn sie gelobt wurde,
weil sie sich beim Tanzen und Singen ausgezeichnet hatte, und
wie Julius, wenn ihm ein Preis überreicht wurde, weil er einen
Wettkampf gewonnen hatte.
Wenige Minuten später schwammen sie wie Delphine im
Wasser. Die Kinder kletterten zwischen den Wracks herum, wo
Julius einige merkwürdige Maschinenteile fand und Juliane
einen alten Kompaß entdeckte, den man, wie Vater Pott sagte,
leicht reinigen und instand setzen konnte. Nach dem
erfrischenden Bad ließen sich alle auf dem Sand zum Picknick
nieder, und zusammen aßen sie sämtliche hartgekochten Eier,
Würste und Rosinenbrötchen auf. Glücklich und zufrieden
streckten sie sich in der Sonne aus, und da sie von dem guten
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Essen und den aufregenden Ereignissen des Tages müde
geworden waren, fielen ihnen die Augen zu, und einer nach dem
ändern schlief ein, zuerst die Mutter, dann der Vater und
schließlich auch Julius und Juliane. Aber... Aber... Aber...
Keiner von ihnen merkte, daß die Flut über den Sand kroch.
Keiner von ihnen sah, daß die Mäste der eingesunkenen
Schiffe immer kleiner wurden, weil das Wasser immer höher
stieg.
Keiner von ihnen hörte das leise Glucksen der Wellen, die in
die Schiffsrümpfe eindrangen.
Und keiner - kein einziger der schlafenden Familie -
beachtete, daß Tschitti-tschitti-bäng-bängs Räder langsam,
Zentimeter um Zentimeter, von der Flut verschlungen wurden,
und niemand ahnte, daß die ganze Familie - Kapitän Karaktakus
Pott, seine Frau Mimi, die Zwillinge Julius und Juliane und
Tschitti-tschitti-bäng-bäng, der jetzt ein richtiges
Familienmitglied war - bald, sehr bald mitten im Meer auf einer
Sandbank in höchster Lebensgefahr sein würde!
Zu allem Unglück wälzte sich dichter Nebel über das Meer, so
daß die Familie Pott und ihr Zauberwagen von dem Leuchtschiff
aus, das etwas weiter südlich von den Sandbänken verankert lag,
nicht gesehen werden konnte. Um alle Fahrzeuge vor der Gefahr
zu warnen, ließ das Leuchtschiff sein lautes Nebelhorn ertönen
und seine blendendhellen Leuchtfeuer aufblinken.
Tschitti-tschitti-bäng-bäng wachte als erster auf und bemerkte
die Gefahr. Er war nämlich durch den Flug zu den Sandbänken
sehr heiß geworden und hatte sich nicht abkühlen können, da er
in der Sonne stand. Als nun die Flut herankroch und den Boden
des Kühlers erreichte, gab das heiße Metall ein lautes
Warnungszischen von sich.
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Die Eltern und die Kinder schlugen verschlafen die Augen
auf, und sogleich waren alle auf den Füßen. Vater Pott rannte
zum Wagen, sprang hinein und drückte auf den Anlasser. Mit
einem schnellen >Tschitti! Tschitti! Bang! Bäng!< ließ der große
Wagen seine Räder im feuchten Sand kreiseln, so daß die
Körner aufwirbelten, kämpfte sich von der herankommenden
Flut frei und wurde von Kapitän Pott zu dem trockenen
Mittelpunkt der rasch kleiner werdenden Sandbank gesteuert,
wo die andern angsterfüllt warteten.
>Schnell! Steigt ein!< rief er. >Wir haben gerade noch
genügend Platz zum Abheben.<
Aber als Julius und Juliane in den Rücksitz kletterten und
Mimi vorn einstieg, waren ihnen die ersten kleinen Wellen
schon über die ebene Sandfläche nachgelaufen, und wieder
wurden die Räder vom Wasser bespült und in den Sand
hineingezogen.
>Du meine Güte!< sagte Vater Pott besorgt. >Jetzt ist es aus!
Tschitti-tschitti-bäng-bäng kann nicht die Geschwindigkeit
gewinnen, die er braucht, um sich in die Luft zu heben. Es bleibt
uns nur die Hoffnung, daß das Leuchtschiff merkt, in was für
einer Klemme wir stecken, und uns sein Rettungsboot schickt.
Doch dann müßten wir Tschitti-tschitti-bäng-bäng hier draußen
allein zurücklassen, und das Meer wird ihn allmählich
verschlucken. Wenn er dann in der Nacht von der Sandbank ins
tiefe Wasser geschwemmt wird, haben wir ihn für immer
verloren!<
Alle saßen ratlos im Auto, während das Wasser rings um sie
gluckste und der Nebel sich verdichtete, ohne daß von einem
Rettungsboot etwas zu sehen war. Auf einmal wurde ihnen klar,
daß ihnen die Gefahr drohte, hier draußen mitten im Ärmelkanal
zu ertrinken.
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Die ganze Zeit war Tschitti-tschitti-bäng-bängs Motor
gleichmäßig gelaufen, aber sehr bald, vielleicht schon in der
nächsten Minute, mußte die Flut seine Lichtmaschine erreichen
und den Motor zum Stillstand bringen.
Auf einmal begann zwischen den vielen Schaltern und
Knöpfen am Instrumentenbrett ein violettes Licht eifrig zu
blinken, und der Befehl >Einschalten!< wurde sichtbar. Obwohl
Kapitän Pott keine Ahnung hatte, was sich ereignen würde,
wenn er diesem Befehl gehorchte, drückte er auf den Knopf
unter dem violetten Licht. Es klang, als ob sich unter dem
Wagen die Zahnräder drehten, und das Fahrgestell schaukelte
sonderbar hin und her. Alle Insassen blickten neugierig über die
Seite, um zu sehen, was da eigentlich los war.
Unglaublich! Die vier Räder, bisher normale Räder wie bei
einem gewöhnlichen Auto, hatten sich nach außen gedreht und
lagen jetzt flach wie bei einem Luftkissenfahrzeug. Als Erfinder
erkannte Kapitän Pott natürlich sofort, was das bedeutete; also
gab er langsam Gas, und gerade als die Wellen den Boden des
Autos erreichten, drehten sich die vier Räder wie
Schiffsschrauben. Es gab einen Ruck, und Tschitti-tschitti-bäng-
bäng fuhr genau wie ein Motorboot durchs Wasser,
vorwärtsgetrieben von den vier Rädern, die jetzt wie
flachliegende Schaufelräder wirkten.
Das war ja alles schön und gut, aber bei Tschitti-tschitti-bäng-
bäng handelte es sich um einen schweren Wagen, der noch dazu
vier Insassen trug, und er mußte sinken, wenn er nicht so schnell
fuhr, daß er gerade nur über die Oberfläche des Wassers
hinwegglitt. Deshalb trat Kapitän Pott das Gaspedal ganz durch.
Die vier Räder wirbelten Wasserfontänen auf, und Tschitti-
tschitti-bäng-bäng sauste tatsächlich über den Wasserspiegel,
mit einer Bugwelle wie ein Rennboot.
Es war für Kapitän Pott nicht einfach, den Masten der
eingesunkenen Schiffe auszuweichen.
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Wie bei einem Slalomlauf mußte er sich durch die
herausragenden rostigen Eisenteile schlängeln. Wenn er das
Steuer nicht blitzschnell dahin und dorthin eingeschlagen hätte,
wären sie ein neues Wrack auf den Goodwin Sands geworden.
Der Nebel umwallte sie, alle zwei Minuten ertönte vom
Leuchtschiff her das dumpfe Heulen des Nebelhorns.
Mimi und die Zwillinge klammerten sich an die Armlehnen.
Jeden Augenblick rechneten sie damit, ein knirschendes
Krachen zu vernehmen, und sie waren darauf vorbereitet, in den
Wellen um ihr Leben zu schwimmen. Doch irgendwie gelang es
Vater Pott zusammen mit Tschitti-tschitti-bäng-bäng, allen
Hindernissen auszuweichen, so daß sie bald auf offener See
waren und geradeaus durch den Nebel dahinsausten.
Plötzlich aber sagte Julius, der einen gut ausgeprägten
Orientierungssinn hatte: >Fahren wir nicht in die verkehrte
Richtung? Das Nebelhorn tutet rechts hinter uns. Müßten wir
nicht an dem Leuchtschiff vorbeifahren, wenn wir nach Dover
wollen?<
Kapitän Pott erwiderte streng: >Du darfst nicht ,rechts' sagen.
Wir sind jetzt Seeleute. Du mußt ,Steuerbord' sagen - das ist
Seemannssprache und heißt ,rechte Schiffsseite'. Auf See heißt
es auch nicht ,links', sondern ,Backbord'.< Er schlug das Steuer
nach links ein, so daß Tschitti-tschitti-bäng-bäng links
einkurvte. >Jetzt fahren wir nach Backbord.< Er steuerte nach
rechts. >Jetzt fahren wir nach Steuerbord. Ganz leicht zu
merken. ,Backbord' und ,links' fangen mit Buchstaben an, die im
Alphabet vor den Anfangsbuchstaben von ,rechts' und
,Steuerbord' kommen. Begriffen?<
>Ja, begriffen<, sagte Julius. >Trotzdem, wohin du auch
steuerst, ob nach Backbord oder Steuerbord, du fährst in die
falsche Richtung - weg von England, meine ich.<
Daraufhin setzte Kapitän Karaktakus Pott seine
geheimnisvolle Miene auf; er machte dasselbe Gesicht wie kurz
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vor Weihnachten, wenn Julius und Juliane fragten, ob der
Weihnachtsmann ihnen das bringen würde, was sie sich
gewünscht hätten, oder auch zu Ostern, wenn die Ostereiersuche
begann.
Mimi und die Zwillinge warteten gespannt, was nun kommen
würde.
Derweil sauste Tschitti-tschitti-bäng-bäng weiter durch den
Nebel, während das Heulen des Leuchtschiff-Nebelhorns immer
ferner ertönte.
>Also<, begann Vater Pott mit seiner Überraschungsstimme
(er hatte auch eine besondere Stimme, wenn er mit einer
Überraschung aufwartete), >jetzt sind doch Ferien, nicht wahr?<
>Ja<, antworteten sie im Chor.
>Hättet ihr Lust auf ein kleines Ferienabenteuer?<
>Ja!< riefen sie atemlos.
>Also gut <, sagte Vater Pott, Tschitti-tschitti-bäng-bäng fährt
wie geschmiert. Der Kanal ist flach wie ein Mühlteich. Wir
haben viel Benzin getankt, der Öldruck ist in Ordnung, die
Temperatur des Motors ebenfalls, und der Nebel wird sich
lichten, je weiter wir uns vom Land entfernen; bis zur andern
Seite des Kanals sind es, schätze ich, nur noch fünfundzwanzig
Seemeilen, so daß die ganze Fahrt nicht einmal eine Stunde
dauern wird. Und da es jetzt erst fünf Uhr ist...< - er schaltete
eine Atempause ein - >und da wir noch nie im Ausland waren,
dachte ich es mir ganz lustig, einmal nach Frankreich zu fahren.<
Eine Weile saßen alle stumm da und dachten über dieses
unfaßbare Vorhaben nach. Schließlich rief Mimi: >Wir haben ja
keine Pässe mitgenommen!<
Julius wandte ein: >Hat man in Frankreich nicht ganz anderes
Geld als bei uns in England? Müßten wir nicht französische
Franken haben?<
Juliane brachte vor: >Und die französische Sprache? Ich habe
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nur ,oui' gelernt, was ,ja' heißt, und ,non', was ,nein' heißt. Damit
werde ich nicht weit kommen.<
Vater Pott erwiderte fest: >Das ist eine ganz verkehrte
Einstellung. Niemals ,nein' sagen, wenn sich ein Abenteuer
bietet. Immer ,ja' sagen, sonst wird das Leben langweilig. Also,
was die Pässe betrifft - wir fahren nach Calais, der französischen
Hafenstadt, die Dover an der schmälsten Stelle des Kanals
genau gegenüberliegt, und gehen zum britischen Konsul, der in
Calais unser Land vertritt und allen Engländern helfen muß. Er
wird uns Ausweispapiere geben. Geld? Wir haben unser
englisches Geld, nämlich Pfundnoten, und wir werden sie in
französische Franken wechseln. Die Sprache - Mutter und ich
können ein wenig Französisch, und wenn wir uns nicht
verständigen können, werden wir schon jemand finden, der
Englisch spricht. Das wäre also in Ordnung. Tschitti-tschitti-
bäng-bäng soll uns über den Ärmelkanal nach Frankreich
bringen. Jetzt stellen wir das Radio an, damit wir die
Wetternachrichten für Schiffe hören, und steuern etwas mehr
nach Osten, weil die Strömung im Kanal ziemlich stark ist. Wir
wollen ja nicht nach Portugal oder gar nach Afrika geschwemmt
werden.< Er schmunzelte. >Oder vielleicht doch?<
Alle antworteten sehr laut und entschieden: >Nein, das wollen
wir nicht!<
Vater Pott schaltete das Radio ein, und aus dem Äther erklang
die bekannte Stimme, der sie bisher nie besondere
Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Jetzt aber war die Nachricht
sehr wichtig für sie. Die Stimme sagte: >Und nun die
Wettervorhersage für die Seefahrer. Nordsee und Ärmelkanal
Windstille. In der Nähe der englischen Küste stellenweise
Nebel. Ein Wetterumschlag ist nicht zu erwarten.<
Karaktakus Pott stellte das Radio ab. >So, das wäre in
Ordnung. Aber jetzt müssen wir Augen und Ohren offenhalten.
Im Ärmelkanal wimmelt es immer von Schiffen, die nach
London fahren und von dort kommen, denn London hat einen
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sehr großen Hafen, und auch von Dampfern aus Deutschland,
Holland, Dänemark, Schweden und Norwegen, sogar aus
Rußland, die unterwegs nach Afrika, Indien, Amerika, China
und Japan sind oder aus so weiter Ferne kommen. Schiffe aller
Nationalitäten benutzen den Ärmelkanal, und deshalb müssen
wir besonders gut aufpassen, sonst werden wir gerammt.<
Noch während er sprach, hörten sie die dumpfen Maschinen
eines großen Dampfers, der sich näherte, und schnell drückte
Kapitän Pott auf die elektrische Hupe. Sie gellte: >Giegeh,
Giehgeh!<, um das große Schiff zu warnen. Aus dem Nebel
ertönte mehrmals ein tiefes >Muh<, genau wie man sich die
Stimme einer dicken Eisenkuh vorstellt, und da tauchte im
Nebel der Bug eines weißen Ozeanriesen auf, der geradewegs
auf sie zukam. Wahrhaftig, der Dampfer fuhr um Haaresbreite
an ihnen vorbei, und sie erhaschten einen Blick auf Passagiere,
die dreißig Meter über ihnen an der Reling standen und auf das
grüne Auto starrten, das mitten im Ärmelkanal seine seitwärts
gerichteten Räder wie Schiffsschrauben benutzte. Dann
verschwand das mächtige Heck im Nebel und ließ ein
Kielwasser zurück, in dem Tschitti-tschitti-bäng-bäng wie eine
Nußschale schaukelte.
>Hui!< riefen alle fast gleichzeitig. >Das war aber knapp!<
Kapitän Pott sagte: Tschitti-tschitti-bäng-bäng, mach
gefälligst die Augen auf und gib acht, wohin du fährst!< Die
andern fanden seine Worte ziemlich ungerecht, aber ihn selbst
brachten sie auf einen Gedanken; denn er schaltete nun die
Nebellichter ein und ließ das gellende >Giegeh!< immer wieder
ertönen. Sie hörten noch viele Schiffe in beiden Richtungen auf
dem Kanal fahren, und einmal tauchte das Sehrohr eines
Unterseebootes aus der Tiefe auf, um sie zu beäugen, ehe es
schnell wieder verschwand. Sie malten sich aus, wie sich die
Nachricht unter der achtzig- bis neunzigköpfigen Besatzung
verbreitete: >Achtung! Über uns ist ein gefährliches
Motorfahrzeug!<
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Auf einmal lichtete sich der Nebel, und ringsum war
Sonnenschein, und als sie am Horizont die weißen Klippen
Frankreichs gewahrten, stießen sie ein Freudengeschrei aus, das
die Besatzung eines holländischen Frachters, der gerade
vorbeifuhr, nicht wenig überraschte. Die Holländer riefen laut
>Hurra!< und blickten dem seltsamen Boot, das da über die
ruhige See flitzte, verwundert nach.
Tschitti-tschitti-bäng-bäng fuhr fröhlich weiter, und als sie
sich Frankreich näherten, sagte Vater Pott, nun sei es an der
Zeit, nordwärts zu steuern, damit sie im Hafen von Calais
landeten. Doch das war leichter gesagt als getan. Immer wieder
trieb die starke Strömung sie nach Süden ab, und wenn Kapitän
Pott das Steuer umlegte, um Kurs nach Norden zu nehmen,
mußte Tschitti-tschitti-bäng-bäng die Geschwindigkeit
verlangsamen, weil seine Räder nicht imstande waren, sich wie
Schiffsschrauben zu drehen und gleichzeitig die Richtung zu
ändern. Vater Pott und auch die andern begannen sich zu sorgen,
weil sie unweigerlich am Fuß der hohen Kalkfelsen landen
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mußten, die ebenso steil waren wie diejenigen an der englischen
Küste bei Dover. Tatsächlich wurde das Wasser immer seichter,
bis sie über den Kies schnurrten und das violette Licht am
Instrumentenbrett mit der dringenden Warnung >Ausschalten<
aufblinkte.
Nachdem Kapitän Pott auf den Knopf gedrückt hatte, nahmen
die Räder ihre normale Stellung ein und rollten holpernd und
knirschend über den groben Kies.
Natürlich waren alle sehr froh, wieder auf trockenem Land zu
sein, aber das änderte doch nichts an der Tatsache, daß sie am
Fuß der gewaltigen Klippen festsaßen, die über ihnen
himmelwärts aufragten. Außerdem stieg die Flut immer noch an,
und da es jetzt halb sieben Uhr war, konnten sie höchstens mit
drei Stunden Tageslicht rechnen. Ja, die Familie Pott war
wiederum in einer unangenehmen und sehr gefährlichen Lage.
Nur durften sie diesmal zuversichtlicher sein, denn mit Hilfe
ihres Wunderautos würden sie sicher auch aus dieser Klemme
einen Ausweg finden.
Vater Pott sagte entschieden: >Es hat keinen Sinn, mit langem
Gesicht hier herumzustehen. Wir müssen uns in zwei Gruppen
teilen und nach rechts und links den Klippen entlanglaufen.
Hoffentlich entdecken wir eine kleine Bucht, wo wir über der
Flutgrenze für die Nacht Schutz finden können. Einverstanden?
Juliane, du kommst mit mir nach links, Mutter und Julius laufen
nach rechts, und wenn wir Glück haben, finden wir eine sichere
Stelle. Sonst müssen wir wieder aufs Meer hinaus, und ich
glaube, keiner von uns möchte draußen auf dem Wasser
übernachten. Also los!<
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-45-
Julius war der erste, der einen Schlupfwinkel entdeckte: eine
große Höhle, die von einem Felsen überdacht war, so daß man
sie vom Meer nicht sehen konnte. Ihr seitlicher Eingang war
ungefähr so groß wie ein Garagentor - das war das erste, was
Julius einfiel. Er rief seine Mutter, und zusammen gingen sie
hinein, vorbei an der Flutgrenze, die von Tang,
Konservenbüchsen, Flaschen, zerrissenen Plastiksäcken und
anderem angeschwemmten Plunder bezeichnet wurde. Weiter
drinnen verbreiterte sich die Höhle und wirkte ein wenig
gespenstisch. So fanden beide, daß es wohl am besten wäre, erst
einmal Tschitti-tschitti-bäng-bäng mit seinen starken
Scheinwerfern hierher zu bringen, bevor sie weiter eindrangen.
Deshalb kehrten sie zurück, liefen durch den tiefen,
knirschenden Kies und riefen nach Vater Pott und Juliane.
Nachdem Vater Pott von der Entdeckung gehört hatte,
kletterten sie alle in den Wagen, der nach seinem üblichen
Niesen und Knallen wendete und langsam über das Geröll zur
Höhle holperte.
>Genau das Richtige< rief Vater Pott. >Hier ist es ganz
trocken.< Damit schaltete er die großen Scheinwerfer ein.
Aufgeregt spähten alle in die Höhle, die in das Innere der
Klippe führte, bis es aussah, als ob es weiter vorn um eine Ecke
ging. >Schön langsam<, befahl Kapitän Pott. Er schaltete den
ersten Gang ein und fuhr vorsichtig über das Geröll. Das
Knallen des Auspuffs widerhallte von den Wänden und dem
Deckengewölbe.
Nachdem sie um die Ecke gebogen waren, wurde die Höhle
noch breiter und noch größer. An den Wänden waren Spuren
von Pickeln oder Meißeln zu sehen, was darauf schließen ließ,
daß Menschenhände die Höhle erweitert hatten. Eine Zeitlang
ging es wieder geradeaus, dann nochmals um eine Ecke und
noch eine. Tschitti-tschitti-bäng-bäng ratterte brav weiter, und
allen verschlug es vor Aufregung fast den Atem.
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>Aufgepaßt!< rief Vater Pott unvermittelt. Sie hörten ein
Quieken, und im gleichen Augenblick flatterten Hunderte von
Fledermäusen aufgeschreckt über ihre Köpfe hinweg. Die
Zwillinge fürchteten sich nicht weiter vor ihnen; schon oft
hatten sie zu Hause Fledermäuse umherschwirren sehen. So
schauten sie nur neugierig zu, und schon bald war das Quieken
nicht mehr zu hören, und Tschitti-tschitti-bäng-bäng gelangte
zur nächsten Ecke.
Erst jetzt wurde ihnen klar, wie tief sie im Innern des Felsens
waren, und alle fragten sich ein wenig ängstlich, was nun wohl
folgen würde, während Tschitti-tschitti-bäng-bäng zwischen den
glatten Kalksteinwänden vorsichtig die Biegung nahm.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war so erschreckend, daß
sogar Tschitti-tschitti-bäng-bängs Auspuff so etwas wie einen
zitternden Seufzer ausstieß. Auch Kapitän Pott, der immerhin
sehr tapfer war, zuckte am Steuer zusammen, trat sofort auf die
Bremse und stellte den Motor ab, so daß in der tiefen Höhle
plötzlich Grabesstille herrschte. Mimi und die Zwillinge überlief
eine Gänsehaut vor Entsetzen, und sie starrten wie gelähmt auf
das fürchterliche Ding vor sich - ein Knochengerüst, das Skelett
eines Menschen, das von der Decke herunterhing und im
leichten Luftzug der Höhle sachte hin und her schaukelte.
Vater Pott fand als erster die Sprache wieder, und es tat wohl,
seine kräftige Stimme zu hören. >Das ist ja lächerlich<, sagte er.
>Nur eine Vogelscheuche. Diese Höhle birgt ein Geheimnis, und
irgend jemand will Eindringlinge verscheuchen, um zu
verhindern, daß es entdeckt wird. Ich bin dafür, daß wir
weiterfahren. Was meint ihr?<
Mimi antwortete ein wenig unsicher: >Wenn du es für richtig
hältst...<
Juliane erklärte mit zitternder Stimme. >Es sind ja nur alte
Knochen.<
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-48-
Julius gab sich Mühe, so zu tun, als ob das Ding gar nicht da
wäre: >Es wäre kein Vergnügen, den ganzen Weg rückwärts zu
fahren. Außerdem ist es spannend, das Geheimnis zu
entdecken.<
>Das ist der richtige Standpunkt<, lobte Vater Pott. >Nun
fahren wir einfach auf die Knie los, ängstigt euch also nicht,
wenn die Füße über den Wagen scharren.< Er ließ den Motor
wieder an und fuhr langsam weiter.
Natürlich war es kein Vergnügen, gegen die baumelnden
Knochen zu stoßen und zu hören, wie die Füße über die Haube
und die Windschutzscheibe scharrten; dann klapperten sie über
die Rückenlehne des Vordersitzes weg und drängten sich
zwischen Julius und Juliane vorbei. Die Zwillinge preßten sich
seitwärts in die Winkel, um von den Zehenknochen nicht
berührt zu werden, und nach einem letzten Gerassel blieb das
Knochengerüst hinter ihnen zurück. Julius und Juliane waren so
dumm, sich umzudrehen, und sahen das Skelett, von Tschitti-
tschitti-bäng-bängs roten Schlußlichtern unheimlich beleuchtet,
heftig hin und her schwanken. Das war wirklich ein so
gespenstischer Anblick, daß sie schleunigst den Kopf wieder
wandten und starr geradeaus schauten.
Der Boden bestand jetzt aus festgetretener Erde, der
Höhlenweg schlängelte sich bergauf, und bei jeder Biegung
spähten alle neugierig nach vorn.
Auf einmal schien Vater Pott etwas Außergewöhnliches zu
hören. Wieder hielt er den Wagen an und stellte den Motor ab.
Da vernahmen es auch die anderen - ein beängstigendes,
geisterhaftes Stöhnen, das an- und abschwoll.
>Was ist das?< fragten alle mit unsicherer Stimme.
Vater Pott lehnte sich vor, schaltete das Suchlicht neben der
Windschutzscheibe ein und ließ den Lichtkegel über die Decke
schweifen, bis er ein merkwürdiges Gebilde traf, das mit
glänzenden Kupferdrähten an der Kalksteinwand befestigt war.
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Vater Pott lachte. >Ein uralter Kniff! Da will irgend jemand
tatsächlich alle Leute aus der Höhle verscheuchen. Das Ding
dort ist eine sogenannte Windharfe, auch Äolsharfe genannt. Sie
ist ähnlich wie eine gewöhnliche Harfe, nur sind die Drahtsaiten
viel dünner, so daß schon beim kleinsten Luftzug Schwingungen
entstehen, die einen Stöhnlaut hervorrufen. Das Instrument kann
geradezu gespenstisch klingen, wenn der Wind abwechselnd
stark und schwach weht. Ich habe die Äolsharfe schon früher
gehört, zum Beispiel in alten Schlössern, wo man den Besuchern
zum Spaß Angst einjagen will. Uns hat sie keine Angst gemacht,
nicht wahr?<
Die andern antworteten zaghaft: >O nein, eigentlich nicht.<
Er ließ den Motor von neuem an, und die Fahrt wurde
fortgesetzt. Im stillen hofften alle, daß es nun mit den
unangenehmen Überraschungen zu Ende wäre; aber ihre
Neugier war doch noch größer. Sie hätten brennend gern
gewußt, wer das Geheimnis der Höhle so eifersüchtig bewahren
wollte und um was für ein Geheimnis es sich überhaupt
handelte.
Vorsichtig schlichen sie um die beiden nächsten Ecken, aber
es ließ sich nicht verhindern, daß Tschitti-tschitti-bäng-bängs
Auspuffgeknatter überall widerhallte. Und dann setzte plötzlich
auf einer schnurgeraden Strecke der Motor aus!
>Sonderbar<, sagte Vater Pott mit einem prüfenden Blick auf
das Instrumentenbrett. >Wir haben schon ziemlich viel Benzin
verbraucht, aber im Tank sind immer noch fünfundzwanzig
Liter. Der Öldruck ist in Ordnung, der Motor zwar ein bißchen
heiß, aber das ist ja normal, wenn man bergauf gefahren ist.< Er
stieg aus, um sich den Motor anzusehen. Als er nach vorn zur
Motorhaube ging, blieb er plötzlich stehen. >Das ist es also<,
murmelte er. >Tschitti-tschitti-bäng-bäng hat die Falle gesehen!<
>Was für eine Falle?< riefen alle und lehnten sich hinaus.
Er wies auf einen dünnen Draht, der in Kniehöhe von einer
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Wand zur andern gespannt war, und untersuchte ihn genau,
wobei er vor sich auf den Boden blickte, weil er mit einer Falltür
rechnete. Dann prüfte er auch die Wände und das
Deckengewölbe, denn es konnte ja sein, daß ein großer Stein
oder eine Waffe darauf lauerten, einem Menschen, der den
Draht berührte, auf den Kopf zu fallen. Die ändern sahen, daß er
niederkniete und die Stelle betrachtete, wo der Draht an der
Wand befestigt war. Schließlich richtete er sich auf und sagte:
>Aha, das ist es also. Ein starkes Stück!< Er kehrte zum Wagen
zurück und kramte aus dem Handwerkskasten Kneifzange und
Gummihandschuhe hervor, die er immer mitnahm, um für
elektrotechnische Reparaturen gewappnet zu sein.
>Was ist denn?< fragten die andern angstvoll, denn allmählich
wurde das ganze Abenteuer doch etwas zu aufregend.
>Ach, nichts weiter. Man will nur alle Höhlenforscher, die bis
hierher vorgedrungen sind, ein bißchen elektrisieren. Und das
wäre ja ein ganz schönes Abschreckungsmittel. Aber für uns
wäre es kein Vergnügen gewesen, denn bei Tschitti-tschitti-
bäng-bäng hätte es Kurzschluß gegeben.< Vater Pott machte ein
nachdenkliches Gesicht. >Wirklich sonderbar, daß Tschitti-
tschitti-bäng-bäng den Draht gesehen und beizeiten gehalten hat.
Scheint wahrhaftig, als hätte er Zauberkräfte.<
Julius und Juliane wunderten sich darüber gar nicht. Sie
wußten längst, daß Tschitti-tschitti-bäng-bäng ein Zauberauto
war. Konnte er nicht fliegen wie ein Flugzeug und wie ein
Rennboot übers Wasser flitzen? Es war ihnen ja schon am ersten
Tage verdächtig vorgekommen, daß sich die Autonummer
ABRA 123 auf zweierlei Weise lesen ließ.
Vater Pott streifte sich die Gummihandschuhe über und
schnitt mit schneller Bewegung den Draht durch. Tatsächlich
entstand dabei ein blauer Blitz, und Funken stoben, als die
Drahthälften zu Boden fielen.
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Sobald Vater Pott wieder am Steuer saß und auf den Anlasser
drückte, wurde Tschitti-tschitti-bäng-bängs Motor wieder
lebendig. Die Fahrt ging weiter bergauf, während die großen
Scheinwerfer nach neuen Gefahren ausschauten. Julius und
Juliane zitterten vor Aufregung; sie konnten es kaum erwarten,
endlich zu erfahren, wie das unterirdische Abenteuer enden
würde.
Immer weiter führte die Schlängelfahrt in den Kalksteinfelsen
hinein, und der Kilometerzähler zeigte an, daß sie jetzt
anderthalb Kilometer vom Meer entfernt waren. Die Luft war
kalt und feucht, und der Wind, der immer stärker wurde,
veranlaßte Julius und Juliane, sich eng aneinanderzuschmiegen,
um sich gegenseitig zu wärmen.
Dann aber, als sie um eine besonders scharfe Biegung kamen,
sahen sie sich plötzlich einer kahlen Kalksteinwand gegenüber;
hier führte der Weg nicht weiter. Sie hatten das Ende des
Tunnels erreicht - jedenfalls schien es so.
Vater Pott stieg aus und ging vorsichtig umher; dabei
betrachtete er den Boden und die Seitenmauern und untersuchte
Zentimeter um Zentimeter die Kalkstein wand, die den Weg
versperrte. Plötzlich schien er etwas entdeckt zu haben, denn er
kehrte zum Wagen zurück und verkündete frohlockend: >Es ist
keine Wand. Man könnte es eher eine Tür nennen, eine
Geheimtür. Wir müssen herausfinden, wie sie sich öffnen läßt.
Steigt alle aus! Wir haben es bestimmt mit einer gut
ausgeklügelten Einrichtung zu tun, die geschickt versteckt ist.<
Alle vier untersuchten nun im hellen Licht von Tschitti-
tschitti-bäng-bängs Scheinwerfern die Kalksteinwand, die wie
eine feste Mauer wirkte. Aber Vater Pott hatte schon beim
erstenmal eine sehr, sehr feine Ritze entdeckt, die mitten in der
Wand im Zickzack von oben nach unten führte. Das konnte kein
natürlicher Riß an der Oberfläche sein. Es mußte sich um eine
durchgehende Fuge handeln, denn durch den winzigen Spalt
drang ein feiner Luftzug.
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Juliane machte sich daran, auf der rechten Seite, wo Längs-
und Querwand zusammenstießen, im Winkel zu graben. Im
Kreidefelsen waren winzige Kiesel eingebettet. Während sie mit
den Händen buddelte, entdeckte sie einen zackigen Feuerstein,
der fast so groß wie ein Fußball war. Neugierig zerrte sie daran,
bis er sich plötzlich löste, so daß sie beinahe rücklings hinfiel.
Sie bückte sich und guckte in das Loch in der Felswand.
Sogleich quiekte sie vor Aufregung und rief: >Papa, komm
schnell her!<
Als Vater Pott neben ihr kniete, sah er, was ihr aufgefallen
war: Wahrhaftig, da war ein Lichtschalter!
>Das hast du gut gemacht, Juliane. Ich glaube, du hast das
Geheimnis entdeckt.< Er rief den beiden andern zu: >Tretet
zurück! Ich will auf diesen Schalter drücken. Weiß der Himmel,
was dann passiert.< Und dann betätigte er den Schalter.
Irgendwo im Innern der Höhlenwände ertönte ein tiefes
Dröhnen wie von einer Maschinerie. Langsam, ganz langsam
verbreiterte sich der Zickzackriß in der festen Wand, und
staunend sahen sie, wie die beiden Hälften der Geheimtür
auseinanderglitten und seitwärts in den Wänden verschwanden.
Tschitti-tschitti-bäng-bängs Scheinwerfer erhellten ein riesiges
Gewölbe, wo rings an den Wänden Kisten, Fässer und Säcke
ordentlich aufgestapelt waren. Es war ein unterirdisches
Warenlager, ein Geheimlager. Was mochte in den Kisten,
Fässern und Säcken sein? Warum versteckte der Besitzer sie?
Und weshalb wurde eine Geheimhöhle benutzt, die durch die
Klippe zum Meer führte? Und wo war der Besitzer? Der
Verdacht lag nahe, daß es ein böser Mensch war, weil er das
Licht der Öffentlichkeit scheute und vermutlich gegen das
Gesetz verstieß.
Diese Fragen und viele andere gingen ihnen durch den Kopf.
Vater Pott stützte die Hände in die Hüften und sagte
nachdenklich: >Hm, hm, ich rieche unsaubere Geschäfte. Nun
strengt alle euer Gehirn an! Mit Hochdruck! Was sollen wir jetzt
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machen?<
Mimi, die sich wie alle Mütter um ihre Kinder sorgte,
antwortete sofort: >Ach, laß uns die Geheimtür wieder schließen
und so rasch wie möglich zurückfahren. Mir gefällt das alles gar
nicht.<
Aber damit waren Julius und Juliane keineswegs
einverstanden. Sie fanden das Ganze zwar etwas unheimlich,
aber sie hatten die Abenteuerlust ihres Vaters geerbt und wollten
das Rätsel des großen unterirdischen Gewölbes lösen. >Oh, bitte,
bitte<, flehten sie, >wir müssen doch herausfinden, was
dahintersteckt.<
Vater Pott überlegte kurz und sagte dann: >Ach, weißt du,
Mimi, es wird uns niemand fressen. Übrigens bin ich ebenso
neugierig wie die Kinder. Ich stimme dafür, die Sache
durchzuführen. Es wäre auch kein Vergnügen, mit Tschitti-
tschitti-bäng-bäng durch den Tunnel zurückzufahren. Meiner
Schätzung nach sind wir nicht mehr weit vom Gipfel der Klippe.
Der Tunnel führt bestimmt auf der anderen Seite des Gewölbes
hinaus. Kommt, wir fahren hinein und lassen Tschitti-tschitti-
bäng-bäng eine Weile ausruhen, während wir uns die
merkwürdigen Vorräte einmal näher ansehen. Ich finde die
ganze Sache recht spannend.<
>Also gut<, stimmte Mimi widerstrebend zu. Eigentlich bin ich
auch neugierig. Aber ganz geheuer scheint es mir nicht zu sein.
Es würde mich gar nicht wundern, wenn wir einer
Verbrecherbande auf die Spur gekommen wären. Hoffentlich
erscheint keiner der Kerle hier, während wir in ihrem Versteck
stöbern!<
>So schlimm wird es schon nicht werden<, meinte Vater Pott
unbekümmert. >Ein echtes Abenteuer ist immer mit Gefahr
verbunden. Kommt!<
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Nachdem alle wieder Platz genommen hatten, steuerte er
Tschitti-tschitti-bäng-bäng in das Gewölbe. Während die andern
sogleich darangingen, die Kisten, Fässer und Säcke zu
untersuchen, kehrte er zum Eingang zurück. Ohne große Mühe
fand er den Schalter, und sobald er daraufgedrückt hatte, schloß
sich die Geheimtür mit rasselndem Gedröhn. Dann beteiligte er
sich an der Erforschung des rätselhaften Warenlagers.
Julius war am flinksten. >Maschinengewehre!< rief er. >Sie
sind in Ölpapier eingewickelt. In Einzelteile zerlegt - man muß
sie nur zusammensetzen.<
>Unglaublich! Lauter Kisten voller Bomben und
Handgranaten!< sagte Mimi.
>Hier sind Dolche<, meldete sich Juliane. >In allen Größen.
Und Gewehre!<
Vater Pott murmelte: >In diesen Kisten ist Dynamit. Und
meterweise Zündschnur. Außerdem Gelatinesprengstoff - den
benützen Einbrecher, um Tresore und Stahlkammern zu
sprengen.<
>Revolver und Maschinenpistolen!< schrie Julius, >große und
kleine, alle möglichen Sorten! Und kistenweise Munition.<
Mimi warnte besorgt: >Rührt ja nichts an, Kinder! Ihr dürft es
euch ansehen, aber nicht anfassen. Sonst könnte es eine
Explosion geben.<
Die Zwillinge wußten nur zu gut, daß ihre Mutter recht hatte.
So begnügten sie sich damit, in die Kisten und Säcke zu blicken,
ohne etwas anzufassen.
Unterdessen ging die Untersuchung weiter. An dem Ergebnis
war längst nicht mehr zu zweifeln: Die Familie Pott hatte ein
großes Waffenlager entdeckt, das mitten im Felsengewölbe
versteckt worden war, sehr wahrscheinlich zu verbrecherischen
Zwecken.
Schließlich fanden sich alle wieder mitten im Gewölbe
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zusammen. Kapitän Pott hielt einen zerknitterten Zettel in der
Hand und sagte: >Wißt ihr, wofür das ganze Zeug bestimmt ist?
In einer Kiste lag dieses Stück Papier, und darauf steht: ,Zu
liefern an Unhold Joe, Basher-Straße 453, Soho, London' Von
diesem Mann habe ich schon öfters in den Zeitungen gelesen;
die Polizei nimmt an, daß er die meisten der unaufgeklärt
gebliebenen Banküberfälle und Einbrüche in England auf dem
Gewissen hat. Bis jetzt wurde er nie aufgespürt, und man konnte
auch nicht herausfinden, woher er seine Waffen bezieht. Nun,
wir wissen es jetzt. Das hier ist sein geheimes Waffenlager, und
wahrscheinlich läßt er alles, was er braucht, von Zeit zu Zeit in
nebligen Nächten mit einem Motorboot über den Kanal nach
England schmuggeln.< Er kratzte sich am Kopf. >Was sollen wir
nun tun?<
>Ich weiß, ich weiß!< rief Julius strahlend. >Sprengen wir das
ganze Lager in die Luft!<
>Aber Julius!< tadelte Mimi. >Was geschieht dann mit uns und
Tschitti-tschitti-bäng-bäng? Sollen wir auch in die Luft gehen?<
>An sich ist sprengen gar kein so schlechter Gedanke <, sagte
der Vater nachdenklich. >Nur müssen wir uns vorher in
Sicherheit bringen, das heißt, den Ausgang finden. Er ist
bestimmt oben am Klippenweg, sonst hätten Joe und seine
Helfershelfer die Sachen nicht hierherschaffen können. Mir ist
aufgefallen, daß es von dort her zieht.<
Er ging zu den Kisten hinüber und versuchte die eine mit
Gewalt beiseite zu rücken; aber zu seiner Verwunderung ließ sie
sich ganz leicht bewegen. Auch die beiden nächsten bereiteten
keine Mühe. Mimi und die Zwillinge halfen, und als sie die
vierte Kiste weggeschoben hatten, sahen sie die Fortsetzung des
ansteigenden Tunnels und in der Ferne einen kleinen
Lichtschimmer.
>Wirklich<, rief Vater Pott. >Dort muß der Ausgang sein. Nun
paßt auf. Wir fahren mit Tschitti-tschitti-bäng-bäng hinaus, und
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wenn wir oben auf der Klippe sind, laufe ich zurück und lege
eine Zündschnur zu dem Dynamit hier im Gewölbe. Dann
machen wir, daß wir möglichst weit wegkommen, bevor das
Feuerwerk losgeht.< Er sah auf seine Uhr. >Es ist acht vorbei,
also wird es schon dunkel sein, so daß wir unser Feuerwerk
genießen können.<
Wieder setzten sich alle ins Auto und fuhren zwischen den
Kisten hindurch und weiter aufwärts, bis sie das Gewölbe hinter
sich hatten. Im Tunnel hielt Kapitän Pott seinen Wagen an, ging
zurück und entnahm einer Schachtel eine aufgerollte
Zündschnur, befestigte das eine Ende an Dynamitzylindern, die
er mit dem ganzen Gelatinedynamit bedeckte, und ließ dann die
Zündschnur abrollen, während er selbst zum Wagen
zurückkehrte.
Als Tschitti-tschitti-bäng-bäng bergauf dem fernen
Lichtschimmer zufuhr, der den Ausgang des Tunnels
bezeichnete, mußte Julius die dicke Zündschnurrolle halten und
sie abrollen lassen.
Der obere Eingang zur Höhle lag in einem alten Steinbruch,
verborgen hinter dichtem Gestrüpp; aber Tschitti-tschitti-bäng-
bäng bahnte sich einen Weg hindurch, und sie holperten und
rüttelten über den steinigen Boden, bis sie zu einem Feldweg
gelangten, der quer über Äcker zu einer ungefähr fünfzehn
Kilometer entfernten Landstraße führte.
Inzwischen dunkelte es schon, und in weiter Ferne, jenseits
der Äcker, tauchten auf einmal die Lichter eines Wagens auf,
der auf dem Feldweg schnurstracks auf sie zuzukommen schien.
>Das ist wahrscheinlich ein Bauer<, meinte Vater Pott. >Los,
wir wollen die Zündschnur in Brand stecken und uns dann
schleunigst davonmachen. Sonst bekommen wir noch einen
Stein an den Kopf. Dort unten in der Höhle ist eine gewaltige
Sprengladung, und wer weiß, wieviel wir von der Felsenklippe
wegsprengen.<
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Er stieg aus, ließ sich von Julius die Rolle geben, schnitt die
Zündschnur durch und warf die Rolle mit dem Rest hinten in
den Wagen. Dann setzte er die Zündschnur in Brand.
Niemals hätten die Zwillinge gedacht, daß eine Zündschnur so
schnell abbrennen könnte. Knisternd schoß die kleine gelbe
Flamme über den Boden des Steinbruchs auf das Gebüsch zu,
das den Eingang zur Höhle versteckte. Vater Pott schwang sich
flugs auf seinen Sitz am Steuer, schaltete und gab Gas, so daß
Tschitti-tschitti-bäng-bäng wie ein Rennwagen über den
Feldweg jagte. Als sie gut zweihundert Meter vom Steinbruch
entfernt waren, hielt Kapitän Pott den Wagen an. Alle blickten
zurück und warteten.
>Bald muß es soweit sein<, rief Vater Pott. Kaum hatte er es
gesagt, drang ein tiefes Grollen und Rumpeln aus dem
Felsgestein, der Boden bebte, und eine riesige gelbe
Stichflamme schoß aus dem Steinbruch hervor. Dann blitzte und
donnerte es am Klippenrand, und langsam stieg eine Rauchsäule
in die Luft, während sich die Gewalt der Explosion durch den
langen Tunnel fortsetzte und unten beim Wasser hervorbrach.
Eine Reihe kleinerer Explosionen folgte, und mit einem
erneuten lauten Knall brach eine letzte Flammengarbe aus dem
Steinbruch und dem unteren Zugang. Es donnerte und rumpelte
in der Erde, der Klippengipfel über der Höhle barst entzwei,
Rauch und Feuer drangen hervor. Endlich schloß sich der Spalt
wieder; aber an der Stelle, wo der Felsen eingestürzt war, blieb
ein großes Loch zurück. Tunnel und Gewölbe waren nun
verschüttet.
Unvermittelt trat Stille ein.
Alle atmeten hörbar auf.
Kapitän Pott sagte: >Die größte Sprengung, die ich jemals
erlebt habe. Nun aber weiter, bevor wir hier irgendwelche
Erklärungen abgeben müssen. Der Bauer ist immer noch auf
dem Weg hierher, und wahrscheinlich hat man den Knall bis
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Calais gehört. Vielleicht sogar auf der anderen Seite des Kanals.
Am besten schleichen wir uns leise davon, und wenn wir wieder
in England sind, gehe ich zur Polizei und erkläre dort alles.
Bestimmt wird man mit uns zufrieden sein. Und vielleicht gibt
man uns sogar eine Belohnung.<
Wieder setzte er den Wagen in Bewegung, und Tschitti-
tschitti-bäng-bäng rollte den Feldweg entlang, als ob er ebenso
hungrig und durstig wäre wie seine Insassen.
Aber o weh!
Als sie sich dem Wagen näherten, den sie für ein
Bauerngefährt gehalten hatten, sahen sie, daß es ein großer
schwarzer Tourenwagen war. Er stand quer über dem Weg, so
daß sie nicht vorbeifahren konnten; vier Männer waren
ausgestiegen. Teils standen, teils kauerten sie, und alle hielten
ihren Revolver gezückt. Der eine von ihnen, ein breitschultriger
Hüne, kam langsam auf sie zu. Er sah aus, als ob er vor Wut
zerspränge; seine Augen waren rot vor Zorn, und er bleckte böse
die Zähne.
Vater Pott flüsterte seiner Familie zu: >Das ist Unhold Joe. Ich
habe sein Bild auf Steckbriefen gesehen. Und die anderen drei
sind seine Spießgesellen - Fassadenkletterer Fink, der schon aus
vielen Gefängnissen ausgebrochen ist, wahrscheinlich auch jetzt
wieder; Bullenbeißer Sam, der berüchtigte Geldschrankknacker,
und Blutsauger Banks, der als Erpresser gefürchtet ist. Nehmt
euch in acht! Wir sind in einer gefährlichen Lage.<
Unhold Joe trat zum Wagen. In drohendem Ton knurrte er:
>Was habt ihr hier zu suchen? Und was wißt ihr von dieser
Explosion?<
Kapitän Pott gab mit Unschuldsmiene zurück: >Explosion?<
Er drehte sich zu den Kindern um. >Hat einer von euch eine
Explosion gehört?<
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Julius antwortete geistesgegenwärtig: >Vorhin hat es ein
bißchen geknallt, Papa. Dort hinten bei der Klippe. Du hast es
wohl nicht gehört.<
>Ein bißchen geknallt!< Unhold Joe explodierte beinahe selbst.
Er wandte sich seinen Helfershelfern zu: >Die denken, sie hätten
ein bißchen Geknalle gehört.< Drohend fuhr er wieder herum.
>Ein bißchen geknallt! Nennt ihr das ein bißchen geknallt? Das
klang ja wie der Weltuntergang!< Seine Stimme wurde zu
zornigem Grollen. >Ich habe euch aus dem Steinbruch
herausfahren sehen, und zufällig, ganz zufällig entdecke ich da
auf dem Rücksitz neben den beiden Schlingeln eine
Zündschnurrolle.<
Ach, du meine Güte, dachten Julius und Juliane gleichzeitig,
wir hätten uns drauf setzen sollen!
>Wißt ihr, was ich mit euch und eurem schneidigen Wagen
tun werde?< Unhold Joe lachte höhnisch. >Zum Entgelt dafür,
daß ihr mein Eigentum in die Luft gesprengt habt, werde ich
euch mitsamt eurem Auto ebenfalls in die Luft sprengen. Ich
werde die Zündschnur in Brand setzen und das brennende Ende
in den Benzinbehälter eures schönen Autos stecken - dann wird
es sicher auch ein bißchen knallen! So habt ihr keine
Möglichkeit mehr, euch in fremde Angelegenheiten
einzumischen.<
Wieder drehte er sich zu seinen Spießgesellen um. >Haltet
euch schußbereit, und wenn einer von diesem Gesindel einen
Fluchtversuch macht, schießt ihr ihn nieder wie einen Hasen.
Verstanden?<
Die Halunken grinsten schadenfroh, und die Potts hörten das
Knacken, als die Pistolen entsichert wurden.
>Also, du Nichtsnutz da hinten, gib mir die Zündschnur, oder
du kannst etwas erleben.< Damit richtete Unhold Joe seine
Waffe auf Julius.
>Nein<, entgegnete Julius trotzig. >Außerdem bin ich kein
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Nichtsnutz.< Kurz entschlossen setzte er sich auf die
Zündschnurrolle.
>Hoho!< Unhold Joe schnitt eine wütende Grimasse. >Ich will
dich lehren, mir zu gehorchen, du Frechdachs.< Er zog einen
Gummiknüppel hervor.
Julius erschrak, aber aus den Augenwinkeln sah er, daß sich
Vater Potts Hand zu dem Knopf am Instrumentenbrett stahl, der
den Flugmechanismus in Bewegung setzte. Gerade als Unhold
Joe zum Schlag ausholte, verwandelten sich Tschitti-tschitti-
bäng-bängs grüne Kotflügel in Tragflächen, die scharf nach
außen schwangen. Der rechte Flügel traf Unhold Joe so heftig in
den Bauch, daß er hintenüber fiel.
>Festhalten!< rief Kapitän Pott. >Duckt euch!< Gleichzeitig gab
er Vollgas.
Tschitti-tschitti-bäng-bäng ruckte mit zornigem Gebrüll
vorwärts und sauste über die drei Spießgesellen weg, die sich
gerade noch beizeiten bäuchlings zu Boden warfen, sonst wären
sie niedergemäht worden. Im nächsten Augenblick erhob sich
das große grüne Flugauto über den schwarzen Wagen der
Verbrecher und brauste der Hauptstraße zu.
Natürlich waren die Gauner schnell wieder auf den Füßen. Sie
feuerten wie wild auf den davonfliegenden grünen Drachen,
aber Kapitän Pott schlug einen Zickzackkurs ein, so daß die
Kugeln ihr Ziel verfehlten. Nur eine einzige traf das Fahrgestell,
ohne weiteren Schaden anzurichten.
>Uff!< stieß Vater Pott hervor. >Das war ein knappes
Entkommen.<
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Auch die andern atmeten auf und dankten im stillen dem
Zauberauto, das sie vor der schrecklichen Rache der Gauner
bewahrt hatte.
Als sie zu der Hauptstraße gelangten, die nach Calais führte,
setzte Kapitän Pott zur Landung auf der glatten Fahrbahn an.
Tschitti-tschitti-bäng-bäng vollführte zwei Hopser auf der
Straße, und dann sauste er dahin, während die großen
Scheinwerfer den schnurgeraden Weg erhellten. In der Ferne
blinkten die Lichter von Calais, die den hungrigen Reisenden
Eierkuchen, Brathühnchen und Eis verhießen. Sie konnten es
alle kaum erwarten, sich an den Tisch zu setzen.
Vor einem gemütlich aussehenden Hotel hielten sie. Es hieß
Splendide, was soviel wie >Vortrefflich< heißt. Hier ließen sie
sich Zimmer anweisen, und nachdem sich alle gewaschen und
gebürstet hatten - das war gewiß notwendig! -, bestellte Vater
Pott in dem hellen freundlichen Speisesaal das köstliche
Abendessen, auf das sie sich so sehr gefreut hatten.
Während die andern am Tisch warteten, ging er hinaus, um
für Tschitti-tschitti-bäng-bäng zu sorgen, der wirklich eine gute
Unterkunft verdient hatte.
Die Familie Pott ließ sich das herrliche Abendessen
schmecken und ging dann zu Bett, um der wohlverdienten Ruhe
zu pflegen.
Aber...
Aber...
Aber..
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In später Nacht, als alle fest schliefen, fuhr ein großer
schwarzer Wagen in der Dunkelheit auf das Hotel zu und
versteckte sich in einer düsteren Nebenstraße. Am Steuer saß
Unhold Joe, auf dem Rücksitz kauerten Fassadenkletterer Fink,
Bullenbeißer Sam und Blutsauger Banks.
Unhold Joe und seine Spießgesellen, die immer noch auf
Vergeltung sannen, stahlen sich zu den Hotelfenstern im
Erdgeschoß, um dort einzubrechen und an der Familie Pott
Rache zu nehmen.
Abermals schwebten Kapitän Karaktakus Pott, Mutter Mimi
und die Zwillinge Julius und Juliane in Lebensgefahr!
Nachdem Unhold Joe festgestellt hatte, daß Kapitän
Karaktakus Pott und Mimi in dem einen Hotelzimmer und die
Zwillinge nebenan schliefen, wartete er nur noch, bis die Lichter
ausgingen, und dann machte er sich mit seinen Helfershelfern
rasch ans Werk.
Dem Kofferraum ihres Autos entnahmen sie
Einbrecherwerkzeug, unter anderem eine ausziehbare
Aluminiumleiter und einen Dietrich, mit dem sie verschlossene
Türen und Fenster öffnen konnten. Im Flüsterton erteilte Joe
seine Befehle. Die Bande stellte die ausziehbare Leiter vor dem
Fenster des Zimmers auf, in dem Julius und Juliane schliefen,
und während Bullenbeißer Sam die Leiter unten festhielt, stieg
Fassadenkletterer Fink flink hinauf und machte sich leise am
Fenster zu schaffen. Es dauerte nicht lange, und schon war das
Fenster geöffnet, und Fink stieg in das Zimmer ein.
Er wußte, was er zu tun hatte. Auf Zehenspitzen schlich er zu
Julianes Bett, zerrte das Leintuch, auf dem sie lag, mit einem
Ruck in die Höhe und machte aus ihr ein Wäschebündel, indem
er die vier Zipfel miteinander verknotete. Noch ehe sie richtig
aufgewacht war, reichte er das Bündel zum Fenster hinaus, und
Bullenbeißer Sam nahm es in Empfang.
Julius bewegte sich im Schlaf, aber auch bei ihm ging es ganz
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schnell. Ein paar hurtige Bewegungen, und schon war auch er
ein Wäschebündel und wurde zum Fenster hinausgereicht. Im
nächsten Augenblick flogen Kleider und Schuhe der Kinder
hinterdrein.
Natürlich wachten Juliane und Julius auf, als sie huckepack
die Leiter hinuntergetragen wurden; doch sie glaubten zu
träumen und wußten nicht, was eigentlich vor sich ging. Erst als
sie zusammengebündelt auf dem Rücksitz des schwarzen
Wagens lagen, kamen sie zu sich. Da begannen sie zu strampeln
und zu schreien.
Aber sie schrien wohl nicht laut genug; es war nur ein
Quieken, das aus den Wäschepaketen drang.
Mimi wachte auf und sagte verschlafen zu ihrem Mann: >Hast
du das Quieken gehört? Es klang irgendwie erstickt. Die Kinder
können es wohl nicht gewesen sein?<
Vater Pott knurrte halb im Schlaf: >Das waren sicher Mäuse,
oder du hast von Fledermäusen geträumt.< Und gleich sank er
wieder in tiefen Schlummer. Keiner von ihnen beachtete das
Motorengeräusch des schwarzen Autos, das aufheulend
davonfuhr.
Zum Glück hatte Tschitti-tschitti-bäng-bäng Unheil gerochen.
Dieser Zauberwagen verfügte über Eigenschaften, die nicht
einmal Kapitän Pott erklären konnte, obwohl er doch ein
Erfinder und großer Techniker war. Als sich der schwarze
Wagen der Verbrecher auf der mondbeschienenen Straße
davonstahl, entstand vielleicht durch die Bewegung eine
elektrische Verbindung mit Tschitti-tschitti-bäng-bängs
geheimnisvollem Inneren; jedenfalls schnurrte es leise in der
Maschinerie, kaum lauter als das Sirren einer Mücke, und vorn
auf der Haube erhob sich eine kleine Antenne mit einem
winzigen Radarschirm, der sich so lange drehte, bis er den
Verbrecherwagen aufgespürt hatte, der jetzt auf der Landstraße
nach Paris dahinraste.
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Die ganze Nacht verfolgte Tschitti-tschitti-bäng-bängs
Radarauge jede Links- und Rechtskurve des schwarzen Wagens.
Sobald die Bande die Stadt Calais hinter sich hatte, befahl
Unhold Joe Bullenbeißer Sam und Blutsauger Banks, die
Leintücher aufzuknoten. Joe war zwar ein Verbrecher, doch
niemals hätte er Julius und Juliane ersticken lassen.
Beide Kinder wußten vor Schreck kaum, wie ihnen geschah.
Es wurde ihnen bald klar, daß sie sich in einer schlimmen Lage
befanden; doch da sie die Sprößlinge abenteuerlustiger Eltern
waren, verloren sie nicht den Mut.
Unhold Joe lehnte sich am Steuer zurück und sagte über die
Schulter mit einer Stimme, die zuckersüß klingen sollte: >Also,
Kinderchen, alles ist in Ordnung. Eure lieben Eltern haben uns
gebeten, mit euch eine kleine Nachtfahrt zu machen, damit ihr
etwas von der französischen Landschaft bei Mondschein seht.<
Er wandte sich an Sam, der neben ihm saß: >Stimmt das,
Bullenbeißer?<
>Hundertprozentig, auf Ehre und Gewissen<, bekräftigte der
starke, schwere Mann.
>Habt ihr gehört, meine Kleinen?< rief Unhold Joe laut, um
das Motorengeräusch zu übertönen. >Ihr seid in allerbesten
Händen.<
Julius hätte Grobheiten vorgezogen. Wenn Erwachsene
schnauzten und schimpften, wußte man wenigstens, woran man
war, und wurde zumindest für voll genommen. Dennoch regten
sie sich nicht weiter auf und wurden bald von Müdigkeit
übermannt. Juliane ließ sich vom Surren des Wagens einlullen,
schloß die Augen und schlummerte, an ihren Bruder gelehnt,
sorglos ein. Julius hingegen wehrte sich noch eine Zeitlang
gegen den Schlaf, und so fing er einige Gesprächsfetzen auf, die
von Unhold Joe und Fassadenkletterer Fink zu ihm geweht
wurden:
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>Gerade was wir für Bon-Bon brauchen... zwei unschuldige
Äffchen... hinein mit ihnen, bevor geschlossen wird... fünfzig
Franken... Tresorschlüssel liegt in der Kasse... wenn der Alte
herausgeben will... dann kann Bullenbeißer Gelatine benutzen.<
Während sich Julius bemühte, den Sinn der Worte zu
erfassen, wurde auch er von der Fahrgeschwindigkeit und dem
Wind eingelullt, und in der festen Überzeugung, daß die Eltern
ihn und seine Zwillingsschwester bald retten würden, schlief er
ein.
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Um drei Uhr nachts waren die Kinder aus dem Hotel entführt
worden, und um acht Uhr morgens hielt der schwarze Wagen
vor einem verlassenen Lagerhaus, das Unhold Joe gehörte. Es
lag am Rande von Paris, über zweihundert Kilometer von Calais
entfernt.
Und genau in dem Augenblick, als die Verbrecher die
zusammengebündelten Kinder in das Gebäude trugen, hörten die
Bewegungen des kleinen Radargerätes auf Tschitti-tschitti-bäng-
bängs Motorhaube auf. Er wußte, daß die Fahrt nun beendet
war. Dann aber geschah wiederum etwas Seltsames. Tschitti-
tschitti-bäng-bängs elektrische Hupe begann >Giegeh, giegeh,
giegeh
Vater und Mutter Pott waren im Nu wach, und mit einer
unterdrückten Verwünschung sprang Kapitän Pott aus dem Bett.
In aller Eile zog er sich an, rannte die Treppe hinunter und
stürzte zur Garage. Er wollte den Schaden beheben, ehe die
ganze Bevölkerung von Calais, angeführt von der Polizei und
der Feuerwehr, herbeikam, um festzustellen, wer an diesem
entsetzlichen Radau schuld war. Doch als er die Garagentür
aufriß und vor Tschitti-tschitti-bäng-bäng stand, ertönte noch ein
letztes >Giegeh<, und dann herrschte Totenstille.
>Was ist denn mit dir los?Wie als Antwort flammten die großen Scheinwerfer warnend
auf.
Kapitän Pott konnte sich kaum fassen. >Mit deiner
elektrischen Anlage scheint etwas nicht zu stimmen<, sagte er
mitfühlend. >Wir wollen einmal sehen, was dir fehlt.< Er wollte
gerade die Motorhaube öffnen, da gewahrte er zum erstenmal
die kleine Radar-Antenne vor der Windschutzscheibe.
Er erstarrte. >Was zum Kuckuck...< begann er, als Mimi
plötzlich herbeistürzte.
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>Die Kinder...< rief sie verzweifelt. >Sie sind verschwunden!
Mitsamt ihren Kleidern! Am Fenstersims sind Spuren einer
Leiter, und das Fenster ist gewaltsam von außen geöffnet
worden. Bestimmt haben die schrecklichen Männer, vor denen
wir gestern geflohen sind, sie entführt! Um Himmels willen,
Karaktakus, was sollen wir tun?<
Vater Pott machte keine langen Reden; er wollte sich auch gar
nicht erst mit eigenen Augen überzeugen. Er wußte, daß Julius
und Juliane das Hotel niemals aus eigenem Antrieb verlassen
hätten - ganz gewiß nicht, ohne gefrühstückt zu haben. Er
blickte von seiner tränenüberströmten Frau zu Tschitti-tschitti-
bäng-bäng, und plötzlich verstand er, was das Radargerät zu
bedeuten hatte. Ebenso klar war ihm auch, daß der Zauberwagen
von selbst gehupt hatte, um ihn und Mimi zu wecken. Offenbar
wußte Tschitti-tschitti-bäng-bäng, wohin die Zwillinge geraten
waren.
>Schnell, Mimi<, drängte er. >Hier hast du Geld. Hol rasch
unsere übrigen Sachen, und bezahl die Hotelrechnung. Tschitti-
tschitti-bäng-bäng weiß, wo die Kinder sind. Frag mich nicht,
woher er es weiß, aber es ist so. Wir wollen ihnen sofort
nachfahren.<
Mimi eilte sofort zum Hotel zurück, während sich Vater Pott
schon ans Steuer setzte und den Motor anließ. Tschitti-tschitti-
bäng-bäng gab seine üblichen Geräusche von sich, und gerade
als Vater Pott ihn aus der Garage gefahren hatte und vor dem
Hotel hielt, kam Mimi herausgelaufen.
Sie sprang in den Wagen, und dann fuhren sie ab, anfangs
langsam, weil Kapitän Pott die Bewegung des
Radarschirmchens auf der Motorhaube beobachten wollte.
Zuerst wies es nach links zur Landstraße; als der Wagen auf
richtigem Kurs war, blieb es stehen, doch bei einer großen
Kreuzung schwenkte es scharf nach rechts, wo der Wegweiser
>Nach Paris< angab. Kapitän Pott warf folgsam das Steuer
herum, und befriedigt sah er, daß das Radargerät ruhig blieb,
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während der Wagen über die große Landstraße nach Paris rollte.
Erst jetzt gab Vater Pott Vollgas. Der Zeiger des
Geschwindigkeitsmessers kletterte immer höher, bis er
hundertachtzig erreicht hatte. Wie ein Sturmwind brauste das
große grüne Auto dahin, während es die Kilometer zu fressen
schien, als ob es die größte Freude daran hätte. Sooft eine
Kreuzung oder Gabelung kam, schlug Kapitän Pott die Richtung
ein, die das Radargerät angab. So sauste Tschitti-tschitti-bäng-
bäng mit Vollgas dem Schlupfwinkel der Verbrecher zu, wo
Julius und Juliane gefangengehalten wurden.
Die Männer hatten die Zwillinge im Hintergrund des
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Warenlagers in einem kahlen Raum eingesperrt und ihnen die
Kleider nachgeworfen. Die beiden zogen sich rasch an und
unterhielten sich flüsternd miteinander, da sie nicht wußten, ob
sie vielleicht belauscht wurden.
Gerade erzählte Julius seiner Schwester von dem Gespräch
zwischen Unhold Joe und Fassadenkletterer Fink, von dem er
Bruchstücke aufgeschnappt hatte, als die Tür aufgeschlossen
wurde. Unhold Joe kam mit strahlendem Gesicht herein, und
hinter ihm folgte Bullenbeißer Sam mit einem Tablett, das er
neben den Kindern auf dem Boden abstellte; denn der Raum
enthielt kein einziges Möbelstück.
Julius straffte die Schultern und gab sich alle Mühe, in
möglichst festem Ton zu sprechen. >Wo sind wir?< fragte er.
>Was haben Sie mit uns vor? Sie werden große Schwierigkeiten
bekommen, wenn Sie uns nicht sofort zu unsern Eltern
zurückbringen. Jeden Augenblick können Sie die Polizei auf
dem Hals haben.<
>Hahaha, das ist wirklich gut! Hast du gehört, Bullenbeißer?
Der Junge sagt, ich werde die Polizei auf dem Hals haben!<
Unhold Joe wandte sich wieder Julius zu und grinste ihn
höhnisch an. >Also, kleiner Mann, die Polizei war schon hinter
mir her, als ich noch jünger war als du. Wenn ich mir's recht
überlege, ist die Polizei immer hinter mir und meinen Freunden
her, aber gefangen hat sie uns noch nie. Oft saß sie mir nahe auf
den Fersen, und sie hat sogar eine hohe Belohnung für den
ausgesetzt, der die Polizei auf meine Spur bringt. Trotzdem
wurde ich nicht geschnappt. Und jetzt glaubst du, ich bekäme es
wegen der lächerlichen Familie Pott mit der Angst? Hahaha!< Er
schüttelte sich vor Lachen, aber es klang gar nicht fröhlich,
sondern teuflisch.
Julius entgegnete zornig: >Wir sind aber gar nicht so
unbedeutend. Mein Vater war Kapitän zur See, und jetzt ist er
ein berühmter Forscher und Erfinder. Außerdem gehört Tschitti-
tschitti-bäng-bäng zu uns!<
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>Und wer ist das, wenn ich fragen darf?<
>Das ist ein Auto, das wunderbarste Auto in der Welt, ein
Zau...< Fast hätte Julius >Zauberwagen< gesagt, doch er schloß
beizeiten den Mund. Er hielt es für besser, das Geheimnis zu
wahren.
>Ach, du meinst eure alte grüne Ratterkiste?< spottete Unhold
Joe. >Zugegeben, das ist eine merkwürdige Karre, wenn ich
denke, wie sie gestern abend plötzlich davonflog, als wir euch in
der Klemme hatten. Wahrscheinlich hat dein Erfinder-Papa eine
Entdeckung gemacht, die ein Auto zum Fliegen bringt.
Stimmt's?< Seine Schweinsäuglein wurden verkniffener denn je.
>Aber reden wir von etwas Vernünftigem, und dann könnt ihr
beide euch über das leckere Frühstück hermachen.<
Er sah die Zwillinge verschlagen an. >Nun hört mir einmal
genau zu. Wenn ihr gehorcht, tun wir euch nichts, im Gegenteil,
ihr könnt euch sogar ein Taschengeld verdienen. Und sobald ihr
eure Pflicht getan habt, setze ich euch in einen Zug, der euch zu
euren lieben Eltern nach Calais zurückbringt.<
Julius öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Unhold Joe
hob seine große behaarte Faust. >Keine Widerrede, Junge. Paß
lieber gut auf, was ich dir zu sagen habe.<
Er machte eine Pause und blickte von einem zum andern.
>Also, ihr habt nichts weiter zu tun, als in ein Geschäft zu gehen
und euch eine große Schachtel Schokolade zu kaufen. Wie
gefällt euch das? Als Belohnung dafür, daß ihr so brave Kinder
seid. Ich habe nämlich Kinder gern.<
Unhold Joe gab sich alle Mühe, ein freundliches, väterliches
Gesicht aufzusetzen; aber es gelang ihm nicht so recht. >Also,
nicht weit von hier, etwa zwanzig Minuten, gibt es das
berühmteste Schokoladengeschäft der Welt. Es heißt ,Bon-Bon',
und das bedeutet, falls ihr es nicht wißt, Süßigkeiten. Der
Besitzer wird Monsieur Bon-Bon genannt. Seit fünfzig Jahren
führt er das Geschäft schon, und vor ihm hatte es sein Vater und
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davor sein Großvater. Es ist also begreiflich, daß es dort die
besten Süßigkeiten der Welt gibt, nicht wahr? Der alte Monsieur
Bon-Bon ist ein seltsamer Kauz, er öffnet seinen Laden nämlich
nur vormittags von zehn bis zwölf und nachmittags von zwei bis
vier. Kurz vor zwölf werden wir euch hinfahren, und dann sollt
ihr bloß hineingehen und eine Schachtel Pralinen für vierzig
Franken verlangen. Ihr könnt euch doch vorstellst, daß das eine
riesengroße Schachtel ist?<
>Nicht schlecht<, knurrte Julius, als ob er zu Hause jeden Tag
eine so große Schachtel Pralinen bekäme.
>Nicht schlecht, sagt er!< fuhr Unhold Joe ärgerlich auf. >Ich
will dir sagen, was das ist. Es ist die größte Schachtel mit
Süßigkeiten, die du je gesehen hast!<
Er beruhigte sich schnell, holte eine dickgefüllte Brieftasche
hervor und entnahm ihr einen Geldschein, den er Julius reichte.
>Hier hast du fünfzig Franken. Ich will nett zu euch sein - die
zehn Franken, die ihr herausbekommt, dürft ihr behalten. Nun
wißt ihr Bescheid, Kinderchen. Ihr geht in das Geschäft, gebt
dem Mann das Geld und bittet höflich um eine Schachtel
Pralinen für vierzig Franken. Monsieur Bon-Bon wird euch
schon verstehen, obwohl seine Muttersprache natürlich
Französisch ist. Dann nehmt ihr die Pralinen und das
Wechselgeld entgegen, und damit fertig. Ein Kinderspiel also,
hahaha! Ihr seid wirklich zwei. Glückspilze. Habt ihr den
Auftrag verstanden?<
Die Zwillinge nickten gleichzeitig.
>Also gut<, sagte Unhold Joe munter. >Komm, Bullenbeißer,
laß uns Kaffee trinken.< An der Tür drehte er sich noch einmal
um. >Seid schön brav, Kinderchen, bis der liebe Onkel Joe
wiederkommt und euch abholt.< Damit ging er hinaus.
Bullenbeißer Sam folgte ihm und schloß die Tür wieder von
außen ab.
Julius und Juliane waren inzwischen so hungrig geworden,
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daß sie sich sofort auf dem Steinboden niederließen und mit
Heißhunger ihr Frühstück verzehrten.
So ein Frühstück hatten sie selten bekommen: Weißbrot, fast
so dünn wie ein Stecken und wunderbar knusprig; die Butter
schmeckte, als ob sie von einem Bauernhof stammte, und die
süße Erdbeerkonfitüre enthielt sogar ganze dicke Erdbeeren.
Nachdem sie von allem zuerst ein wenig mißtrauisch gekostet
hatten, ließen sie es sich herrlich schmecken. Zwischen den
Bissen raunten sie einander ihre Gedanken und Befürchtungen
über Unhold Joes Pläne zu. Sie vermuteten, daß er und seine
Spießgesellen Monsieur Bon-Bon berauben wollten und sie
selbst ihnen dabei behilflich sein sollten. Sie waren die
>unschuldigen Äffchen<, die das Geschäft betreten mußten, kurz
bevor es geschlossen wurde. Die Verbrecher würden derweil
wohl an der nächsten Ecke warten. Julius hatte einen
Fünfzigfrankenschein erhalten, sollte aber nur für vierzig
Franken Pralinen kaufen, so daß Monsieur Bon-Bon zur Kasse
gehen mußte, um das Wechselgeld herauszuholen.
>Tresorschlüssel liegt in der Kasse...<- diese Worte hatte er
aufgefangen. Wenn Monsieur Bon-Bon die Kasse öffnete,
würden die Gauner hereingestürzt kommen, den alten Mann
überfallen und den Schlüssel zum Tresor stehlen, in dem er sein
Vermögen aufbewahrte.
>Aber ich verstehe nicht, wieso Bullenbeißer Gelatine
benutzen soll<, flüsterte Julius. >Gelatine braucht man für
Pudding, das weiß ich, aber Monsieur Bon-Bon wird wohl
keinen Pudding verkaufen. Oder wollen sie ihm den Mund mit
Gelatine verstopfen, damit er nicht um Hilfe rufen kann?<
Beide kicherten, als sie sich dieses Bild ausmalten; doch
plötzlich kam Juliane eine Erleuchtung.
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>Erinnerst du dich, was Vater gestern sagte, als wir die Kisten
und Säcke in der Höhle untersuchten? Er sagte, es sei
Gelatinesprengstoff dabei, den Einbrecher benützten, um
Tresore und Stahlkammern zu sprengen. Vielleicht kürzen sie
das Wort ab und sprechen bloß von Gelatine.<
>Natürlich<, wisperte Julius. >Du hast es erraten! Sie wollen
sich den Schlüssel aus der Kasse holen, und wenn es damit nicht
klappt, öffnen sie den Tresor mit Gelatinesprengstoff! Was
sollen wir nur tun? - Ich hab's! Wenn wir zum Ladentisch gehen,
müssen wir Monsieur Bon-Bon warnen, daß draußen Einbrecher
sind. Aber wie sollen wir uns verständlich machen? Wir können
ja kein Französisch.<
>Könnten wir nicht Gesichter schneiden, mit den Fingern so
tun, als ob es eine Pistole wäre, und dazu ,pengpeng' sagen?<
schlug Juliane vor.
>Er würde uns nur albern finden<, meinte Julius. >Oder gar
unverschämt. Wir müssen ihm eine schriftliche Nachricht
zustecken.<
>Aber wir haben doch weder Bleistift noch Papier.<
>Doch, Papier haben wir<, frohlockte Julius. Er holte den
Fünfzigfrankenschein hervor und strich ihn glatt. >Wenn wir das
Wort ,Gangster' daraufschreiben, würde Monsieur Bon-Bon es
sicher verstehen. Aber womit sollen wir schreiben?< Er sah seine
Schwester vorwurfsvoll an. >Schade, daß du nicht älter bist;
dann hättest du wenigstens einen Lippenstift. Ich habe nichts in
den Taschen außer einem Schnupftuch, etwas Schnur und
meinem Taschenmesser. Und du?<
>Nur mein Taschentuch<, antwortete sie verzweifelt. >Aber
könntest du nicht mit deinem Messer etwas unternehmen? Es hat
doch verschiedene Klingen und andere Werkzeuge.<
>Donnerwetter, ja!< stieß er hervor. >Natürlich können wir mit
der Korkenzieherspitze Löcher in den Geldschein bohren, und
zwar so, daß sich das Wort Gangster in großen Buchstaben
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ergibt. Los, schnell! Setz dich zwischen mich und die Tür, falls
jemand durchs Schlüsselloch guckt.<
Er kramte sein Taschenmesser hervor, ließ den Korkenzieher
aufschnappen und machte sich an die Arbeit. Schließlich prüften
beide das Werk und fanden, daß jeder, der die Banknote in die
Hand nahm, die Löcher fühlen mußte. Monsieur Bon-Bon
würde den Schein sicher mißtrauisch betrachten. Vielleicht
würde er ihn sogar ans Licht halten, um zu sehen, ob man diesen
Geldschein so schlimm beschädigt hatte, daß er keine fünfzig
Franken mehr wert war.
Kaum hatte Julius das Geld und sein Messer eingesteckt, da
wurde die Tür geöffnet, und Unhold Joe erschien mit
Fassadenkletterer Fink.
>Kommt, Kinderchen! Es wird Zeit, daß wir aufbrechen<,
sagte er leutselig. >Vorher wollen wir nur noch eine kleine
Formsache erledigen. Ich glaube zwar nicht, daß ihr inzwischen
etwas ausgeheckt habt...< Er blickte argwöhnisch von einem zum
andern. >Aber ich möchte doch sehen, was ihr in den Taschen
habt.<
Julius war froh, daß sie keinen Brief hatten schreiben können.
Mit Unschuldsmiene drehte er seine Taschen um und zeigte das
Messer, die Schnur, das Schnupftuch und den
zusammengefalteten Fünfzigfrankenschein. Juliane hatte nur ihr
Taschentuch vorzuweisen.
>Schön, Kinderchen, gehn wir<, sagte Unhold Joe. >Vergeßt
nicht, was ihr zu tun habt: Ihr geht einfach ins Geschäft und
verlangt eine Schachtel Pralinen für vierzig Franken,
verstanden?<
Gleich darauf fuhren sie in dem schwarzen Wagen durch die
Straßen. In der Ferne ragte der Eiffelturm, das Wahrzeichen von
Paris, wie eine große Nadel aus dem Häusergewirr zum Himmel
empor.
Julius beachtete die Gegend nicht weiter, sondern hielt
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Ausschau nach einer Uhr, um zu sehen, wie spät es war. Es ging
auf zwölf Uhr zu - das war die Stunde, in der Monsieur Bon-
Bon sein Geschäft mittags zu schließen pflegte. Nur noch eine
Minute fehlte daran, als sie an einem prächtigen Schaufenster
vorbeikamen, über dem in goldenen Buchstaben >Bon-Bon<
stand. In der nächsten Seitenstraße machten sie halt, und gleich
darauf hörte Julius eine ferne Kirchenuhr die volle Stunde
schlagen.
Die Wagentür wurde aufgerissen, und grobe Hände stießen
die Kinder hinaus. >Lauft! Lauft!< zischte Unhold Joe heftig.
>Wir haben uns verspätet, gleich wird er den Laden schließen.
Tut genau, was ich euch gesagt habe, dann krümmen wir euch
kein Haar. Sonst aber...< Er hob die große behaarte Faust; aber
die Zwillinge waren schon um die Ecke geeilt.
Tatsächlich wollte Monsieur Bon-Bon gerade den Laden
schließen, so daß die Kinder keine Zeit mehr hatten, die
verlockenden Auslagen im Schaufenster zu betrachten.
Wunderbarer Schokoladeduft stieg ihnen in die Nase, als sie
eilig eintraten. Vor ihnen stand ein lieber alter Herr, der eine
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weiße Schürze über dem dicken Bauch trug.
Lächelnd blickte er auf die beiden Kinder. Er freute sich
offensichtlich, sie zu sehen, denn er vergaß, die Ladentür zu
schließen.
>Qu'estce que vous desirez?< Aus der Art, wie er die Brauen
hochzog, errieten die Zwillinge, daß das soviel wie >Was
wünscht ihr?< hieß.
>Bitte eine Schachtel Pralinen für vierzig Franken<, stieß
Julius atemlos hervor.
>Ei!< rief Monsieur Bon-Bon. >Für vierzig Francs - das ist
serrr großer Schachtel.< Er ging zu einem Gestell, auf dem sich
wunderschöne Schachteln mit bunten Schleifen reihten.
Er nahm eine Schachtel herunter. >Gefällt euch dieser? Er ist
mit gemischte Pralines.<
Julius und Juliane mußten ein Kichern unterdrücken, weil sie
seine Sprache so lustig fanden; aber sie wurden gleich wieder
ernst, weil sie an ihre gefährliche Lage dachten und sich bewußt
waren, daß ihnen der schwierigste Teil des Unternehmens noch
bevorstand.
>O ja, bitte<, antwortete Julius hastig und warf einen Blick
über die Schulter. Draußen stand Bullenbeißer Sam, der an den
Auslagen vorbei durchs Schaufenster hereinspähte.
Monsieur Bon-Bon ging hinter den Ladentisch, um die
Schachtel einzupacken. Julius folgte ihm und streckte ihm mit
zitternder Hand den Fünfzigfrankenschein entgegen. Juliane
stellte sich neben ihn und knabberte vor Aufregung an den
Nägeln.
Monsieur Bon-Bon nahm das Geld und fühlte sofort die
Löcher, als er den Schein auseinanderfaltete. Er schaute die
Kinder argwöhnisch an, und als er ihren gespannten
Gesichtsausdruck sah, wurde er noch mißtrauischer. Er hob den
Geldschein ans Licht und buchstabierte leise das Wort, das ihm
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sofort auffiel.
>Gangster<, flüsterte Julius eindringlich, >Gangster draußen.<
Mit dem Kinn wies er ruckartig auf die Tür.
Monsieur Bon-Bon hatte begriffen. Wortlos rannte er durch
den Laden, schlug die Tür zu und verriegelte sie; dann drückte
er einen Hebel neben der Tür nieder, worauf draußen der eiserne
Rolladen herunterrasselte. Die Kinder konnten gerade noch das
wutverzerrte Gesicht Bullenbeißer Sams erspähen.
Sofort eilte Monsieur Bon-Bon wieder hinter den Ladentisch,
nahm den Hörer vom Telefon und schleuderte erregt einen
Wortschwall in die Muschel. Die Zwillinge fingen ein paarmal
das Wort >Police bedeutete.
Schließlich legte Monsieur Bon-Bon den Hörer auf, kam
hinter dem Ladentisch hervor und betrachtete die Zwillinge eine
Weile stumm. Dann sagte er: >Und nun ich wollen hören, was
Erklärung ist, ja?<
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Kaum hatte Julius zu stammeln begonnen, da ertönte draußen
auf der Straße ein gellendes >Giegeh!<, in dem die Kinder sofort
Tschitti-tschitti-bäng-bängs warnende Hupe erkannten; dann
klirrten Glasscherben, Rufe erklangen, und man hörte eilende
Schritte.
Mittlerweile hatte sich nämlich folgendes zugetragen:
Tschitti-tschitti-bäng-bäng hatte auf seiner Blitzfahrt von Calais
nach Paris alle Rekorde gebrochen. Es schien, als ob er das
Steuer selbst übernommen habe, so besessen fuhr er durch die
Straßen, ohne die Verkehrsampeln zu beachten, ohne dem
pfeifenden Polizisten zu gehorchen, ohne auf die anderen
Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen. Durch den dichten
Großstadtverkehr sauste er, als wüßte er, daß jede Minute zählte.
Kapitän Pott umklammerte ingrimmig das Steuer, und Mimi
bedeckte die Augen mit den Händen, weil sie jeden Moment
einen Zusammenstoß befürchtete.
Endlich aber blieb der kleine Radarschirm auf der
Motorhaube stehen.
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Tschitti-tschitti-bäng-bäng verlangsamte ganz von selbst die
Fahrt, als ob er Witterung nehmen müßte. Und wirklich, als sie
an einem geschlossenen Geschäft vorbeikamen, auf dessen
Schild in goldglänzenden Buchstaben >Bon-Bon< stand, schoß
plötzlich aus der Seitenstraße ein niedriger schwarzer Wagen
hervor. Vater und Mutter Pott hatten gerade noch Zeit, das
Gangsterauto zu erkennen, da riß Tschitti-tschitti-bäng-bäng
dem Kapitän buchstäblich das Steuer aus der Hand und sauste
wie ein angreifender Stier quer über die Straße schnurstracks auf
den schwarzen Wagen zu.
Tschitti-tschitti-bäng-bäng traf den Gangsterwagen mit
gewaltigem Krachen genau in die Mitte, so daß er umkippte.
Scherben klirrten; die vier Gangster flogen auf die Straße. Als
sie sich schließlich aufrafften, um die Flucht zu ergreifen,
erschienen von beiden Enden der Straße Polizeistreifen mit
gellender Sirene.
Vater Pott stieg aus dem grünen Wagen und beteiligte sich an
der Jagd, bis die Bösewichte gefangen wurden.
Als sie sich mit erhobenen Händen der Polizei ergaben, wurde
das Schokoladengeschäft geöffnet. Ein dicker Mann eilte herbei
und hinter ihm Julius und Juliane.
Oh, welche Freude, als die Zwillinge ihre Eltern wiedersahen!
Und als dann alle vier Verbrecher, endlich mit Handschellen
gefesselt, in einem Polizeiwagen abtransportiert wurden,
konnten die Zwillinge berichten, was sie erlebt hatten, und sie
wurden von den Polizisten wegen ihrer Tapferkeit gelobt.
Ein Abschleppwagen kam und schaffte das vollständig
zertrümmerte Gangster-Auto weg. Tschitti-tschitti-bäng-bäng
hatte weniger Schaden erlitten; nur die vordere Stoßstange und
der Kühler waren verbeult. Die Polizei versprach, den Schaden
so schnell wie möglich beheben zu lassen. Monsieur Bon-Bon
und die Familie Pott sahen besorgt zu, wie der große grüne
Wagen behutsam zur nächsten Garage gebracht wurde. Vater
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Pott ließ es jedoch keine Ruhe; er folgte Tschitti-tschitti-bäng-
bäng, um sicherzugehen, daß auch gut für ihn gesorgt wurde.
Tschitti-tschitti-bäng-bäng aber schien sich sehr wohl dabei
zu fühlen, daß er von einer ganzen Schar bewundernder
Mechaniker gehegt und gepflegt wurde. So kehrte Vater Pott
beruhigt zu seiner Familie zurück, die sich in Monsieur Bon-
Bons Wohnung über dem Laden versammelt hatte. Monsieur
Bon-Bon bestand darauf, die Familie mit einem herrlichen
Mittagessen zu bewirten, das sich alle nach der überstandenen
Aufregung gut schmecken ließen. Danach zeigte er ihnen die
Sehenswürdigkeiten von Paris und überredete sie sogar, bei ihm
zu übernachten und erst am nächsten Tag abzureisen.
Madame Bon-Bon war ebenso nett wie ihr Mann, und für die
Zwillinge war es eine besondere Freude, daß gerade Bon-Bons
Enkelkinder zu Besuch waren. Sie hießen Jacques und
Jacqueline und waren ungefähr im gleichen Alter wie Julius und
Juliane. Alle vier redeten durcheinander und verständigten sich
mit Zeichensprache, wenn es nicht anders ging.
Am späten Nachmittag kamen einige Polizeibeamte und
nahmen ein Protokoll auf. Der Oberinspektor verkündete den
Potts, sie würden für ihre gemeinsamen Bemühungen, die zur
Festnahme der gesuchten Verbrecher geführt hätten, die
ausgesetzte große Belohnung erhalten. Madame Bon-Bon
überreichte ihnen ebenfalls eine Belohnung; nicht Schokolade,
wie die Zwillinge zuerst annahmen, sondern ein Stück Papier.
Auf dem Papier stand in feingestochener Schrift ein Rezept, das
die Familie Bon-Bon bisher immer geheimgehalten hatte.
Am folgenden Morgen begab sich Vater Pott zur Garage, und
wahrhaftig, Tschitti-tschitti-bäng-bäng war ganz
wiederhergestellt und strahlte im alten Glanz. Kein Kratzer
erinnerte mehr an seinen mutigen Angriff auf den schwarzen
Gangsterwagen.
Vater Pott fuhr in dem grünen Zauberwagen zum Bon-Bon-
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Geschäft zurück, wo sich alle jede Einzelheit des Autos zeigen
ließen. Dann winkte Monsieur Bon-Bon die Zwillinge in den
Laden und befahl ihnen, die Arme auszustrecken. Eine
Schachtel nach der anderen lud er ihnen auf, bis Julius und
Juliane kaum mehr aufrecht stehen konnten. Der Schachtelberg
war so groß, daß für die Zwillinge auf dem Rücksitz nur noch
knapp Platz blieb.
Liebevoll nahm man Abschied, und alle versprachen, sich zu
schreiben und einander zu besuchen. Tschitti-tschitti-bäng-bäng
war es zu verdanken, daß die Familien Pott und Bon-Bon
Freunde fürs Leben blieben.
Tschitti-tschitti-bäng-bäng sah ganz anders aus, als er zahm
die Straße entlangfuhr; nichts erinnerte mehr an den grimmigen
Ausdruck, mit dem er tags zuvor herbeigebraust war.
Sie bogen in die Landstraße nach Calais ein, wo sie mit der
Autofähre nach Dover übersetzen wollten, und Vater Pott sagte
über die Schulter zu Julius und Juliane: >Na ja, ich finde,
vorläufig haben wir genug Abenteuer erlebt. Es wird höchste
Zeit, daß wir wieder ein stilles, friedliches Dasein führen.«
Mimi stimmte nachdrücklich zu.
Aber im Rücksitz ertönte lauter Widerspruch. >Ach nein!
Noch mehr Abenteuer! Noch mehr Abenteuer!< riefen die
Zwillinge im Chor.
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Da surrte und schnurrte es tief innen in Tschitti-tschitti-bäng-
bäng. Die vorderen und die hinteren Kotflügel verwandelten
sich in Tragflächen; der Kühler öffnete sich, der kreiselnde
Propeller sprang heraus, und der große grüne Wagen stieg mit
brausendem Schwirren in die Luft.
>Du liebe Zeit!< rief Vater Pott. >Ich habe keine Gewalt mehr
über Tschitti-tschitti-bäng-bäng. Er hat abgehoben. Wohin wird
er uns bringen?<
Niemand weiß es; es ist ein Geheimnis geblieben. Aber
wahrscheinlich ist die Familie Pott doch unversehrt zu Hause
gelandet; denn heute kennen dort alle Leute das Geheimrezept
der Schokoladenfirma Bon-Bon, und drum sei es auch hier
verraten:
500 g Streuzucker
1 kleine Büchse Kondensmilch
125 g Tafelbutter
1 Eßlöffel Wasser
1 Eßlöffel Honig
4 Eßlöffel geriebene bittere Schokolade
Alle diese Zutaten gibt man in einen Kochtopf und läßt
sie auf kleinem Feuer langsam schmelzen, bis die
Mischung eine dickflüssige, ganz glatte Masse ist. Dann
läßt man sie auf großer Flamme so lange unter
fortwährendem Rühren kochen, bis sich eine Probe, die
man in kaltes Wasser tropfen läßt, zu einer weichen
Kugel formt. Nun nimmt man den Topf vom Feuer und
schlägt die Masse mit einem Holzlöffel. Zum Schluß
gießt man sie auf ein eingefettetes Kuchenblech und
schneidet Vierecke ein.
Nach dem Abkühlen genießen!
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